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Katharina Schultens: gorgos portfolio

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Walter Fabian Schmid

Differenzen mit Luhmann



Sieht man das Fundamentierungsparadox als Problem (…) kann man (…) fragen, welche funktional äquivalenten Möglichkeiten der Auflösung des Paradoxes erkennbar sind. Deshalb brauchen wir mehr als eine Gorgo. Medusa repräsentiert die logische Tradition. Sie ist tot, getötet durch den Spiegel der Selbstreferenz, den Perseus ihr vorgehalten hat. Das Sezieren der Leiche können wir den Logikern überlassen. Euryale nehmen wir als Repräsentantin der rhetorischen Tradition. Ihr Blickvermeidungsrezept heisst – man kann es mit der nötigen Ambivalenz nur auf Englisch sagen – «saving distinctions». Man rettet sich durch Unterscheidungen und ist in der Folge dann genötigt, die Unterscheidung zu retten. Deren Form (…) verstellt die Rückkehr in den «unmarked space». Stheno schliesslich steht in der Ahnenreihe der theologischen Behandlung von Paradoxien. Die Theologie war ja immer schon paradox inspiriert bei ihren Versuchen, das Unbeobachtbare zu beobachten – und sei es mit Hilfe des genialen Zwischenbeobachters, des Teufels.

(Niklas Luhmann: Sthenographie und Euryalistik. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche.
Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1991, S. 71
)



Wenns nach Luhmann geht, kann man das Konzept Medusa getrost in den Eimer treten. Ihm kommt es auf die anderen beiden Gorgonen, Euryale und Stheno drauf an, mit denen er Paradoxien deblockieren und auflösen will. Auf keinen Fall will er sie postmodern sich selbst überlassen oder gar ein göttliches «hach, mich hat die Paradoxie berührt» à la Derrida; sondern er will die paradoxen Systeme aus ihrer Autoreferenz holen.

       Dennoch greift Schultens aber erst einmal auf die Medusa zurück. Als Gorgonin der Arbeitswelt schlüpft sie in human resources von der Praktikantin über die Hilfspflegerin bis zur Managerin in verschiedene Rollen und dient als Allegorie weiblicher Arbeitsbedingungen. Zurechtgestutzt von der Projektleitung und kahlrasiert von Perseus tritt sie etwas abgebrüht und wirkungslos auf, auch weil sie allseits von Spiegeln bedroht wird, womit ihr versteinender Blick auf Selbstvernichtung umgelenkt wird. In der Zermürbung eines kalten Krieges werden abstruseste Mittel wie der von Perseus zum Schwert ausfahrbare Kugelschreiber aufgeboten. Medusas Spiegel der Selbstreferenz bleibt dann aber nur als Mahnmal in Form einer «schale toter augen», die wie rote Trauben zerstampft wurden. Und es ist wohl gewollt, dass die abfälligen «sauren Trauben» des antifeministischen Männerrechtlers Michail A. Xenos anklingen.


     Erst dann geht Schultens in die «unmarked spaces», die bei jeder Beobachtung ausgesparten Räume des Nicht-Beobachteten, und setzt das Unbeobachtbare frei. Die Kapitelnamen dark pools und insider trading thematisieren von sich aus schon verborgene Räume, in denen sich ein anonymer, untransparenter Handel mit Wertpapieren abspielt und die illegale Verwendung von Insiderinformationen bei Börsengeschäften stattfindet. Beides sind selbstregulierende, abgeschottete Systeme, die bei Schultens auffliegen. Sie sind voller Bugs und werden wortwörtlich von Käfern durchkreuzt. Der Aktienindex frisst sich als mythologischer Kampe durch die Portfolios, aus denen nach dem Verlust der Pläne nur mehr die risikogestreute Krise wuchert: «welches grundmuster dieser krise dehnt sich / gemächlich zum netz und holt die katastrophe ein».

     
Dabei benutzt Schultens stets die Allegorisierungen Luhmanns und seine praktische Methode. Was in gorgos portfolio immer wieder in Form von Augen, Blicken und wahrgenommenen Differenzen auftaucht, ist ihre ganz eigene Kybernetik zweiter Ordnung – die Beobachtung der Beobachtung, die das Unoffensichtliche sichtbar macht. Dieses ungriffige Konstrukt erklärt aber auch die Sprecherposition von Schultens Texten: Mit objektiver Distanz und rationaler Kälte steigen die Texte analytisch hinter ökonomische Begrifflichkeiten und Sachverhalte. So tut sich das lyrische Personal – das manchmal sogar etwas apathisch und wurschtig daherkommt – aber auch leicht bei der Entblössung, bis zur Lächerlichkeit zu gehen. Kein Wunder, dass bei dieser Abgebrühtheit auch zwischenmenschliche Beziehungen mit der Rational-Choice-Theory vermessen werden, genauer mit dem concorde-effect bzw. der sunk-cost fallacy, was jenes paradoxale Verhalten meint, das einen aufgrund von bereits getätigten Investitionen an den bisherigen Beziehungen festhalten lässt, anstatt auf neue, lohnenswertere einzugehen, weswegen dem lyrischen Du bei Schultens seine versunkenen Kosten in Form von Emotionen vorgehalten werden.

      Unter dem abgeklärten Deckmantel herrscht eine Art Hysterie, die auf der Unsicherheit aufbaut, was hier überhaupt noch steuert, was die Zusammenhänge sind, was etwas bedingt und welche Auswirkungen es hat. Neben den losgelösten Akteuren entwickeln die Dinge ihr Eigenleben, was aber auch zu neuen Kommunikationsschranken führt und ein Beobachtungsdilemma zu einem Handlungsdilemma macht. Und dann kommt auch noch die moderne Überwachungstechnik dazu: «ich kann / was ich sagen will verschlüsseln damit mans sicher findet / im großen netz. es gibt / eine technik für alles es gibt auch eine der unterlassung // bitte entlass mich in methodenlosigkeit / bitte erlaube mir ein ungewaschnes kind / missversteh meine bilder zu identität / finde mich: bitte finde mich nicht».

      Um in der Kybernetik zweiter Ordnung nicht in Selbstbezüge zurückzufallen, verteilt Schultens die Wahrnehmung auf vernetzte Beobachter. Mit einer Identitätszuweisung wirds da schwierig, weil die Gründe für die ökonomischen und politischen Machenschaften uneindeutig bleiben. Aber vielleicht ist das genau das, was Schultens will. Schliesslich hat sich das Luhmann ein bisschen einfach vorgestellt. Denn bei der Aufdeckung von Paradoxien findet in der Kybernetik zweiter Ordnung immer eine Umlenkung von Aufmerksamkeiten statt und es werden wieder neue Differenzen zum Ursprungsparadox produziert. So vor allem im Kapitel seltene erden. Zwar funktioniert bei Schultens die Einbettung in den Kontext hauptsächlich über den Gedichttitel, die Gedichte selbst lassen sich aber davon wegtreiben.

      Die aktuelle Leonce-und-Lena-Preisträgerin packt in ihren neuen Gedichtband ziemlich listige Texte, die eigentlich sehr leicht zu lesen sind, hinter denen aber viel mehr steckt. Zum einen schafft sie es als einzige deutschsprachige Dichterin hinter die Fassaden unserer hauptsächlich durch die Finanzwirtschaft hervorgerufenen Krisen zu schauen, zum anderen präsentiert sie damit ein Netz aus Mythen und surrealen Zusammenhängen. Selbst da, wo ihre Bildkombinationen noch so schrill sind, bringt sie das mit einer fast unheimlichen Selbstverständlichkeit rüber und stellt damit eine glaubwürdige, hochfiktive Realität her. Aber schliesslich produziert die Beobachtung der Beobachtung selbst nur subjektive Realitäten, denen oft der ontologische Verweis verloren geht, so dass sich dieses Konstrukt in reiner Fiktion auflöst. Da aber ein Beobachter auch immer ein Ausgeschlossener bleibt, hängt man als Leser, also als Beobachter dritter Ordnung, oft ein bisschen in der Luft und bleibt theoretisch nur an der Oberfläche des Textes. Obwohl das mitnichten wenig ist, fallen die Texte tendenziell wieder in die Autoreferenzialität und die Dekonstruktion zurück. Doch das ist jetzt ein Problem der praktischen Theorie. Vergesst sie und geniesst das Buch!



Katharina Schultens: gorgos portfolio. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2014. 63 Seiten. 19,90 Euro.

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