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Katharina Kohm: Ein utopischer Raum im Zeichen dystopischer Zukunftsprognosen - Teil 3

Diskurs/Kommentare > Diskurse
Foto: Alexander Paul Englert
Fokus Lyrik –
der Zwischenstand von gegenwärtiger Sprachkunst und ihrer Vermittlung im deutschsprachigen Raum

von Katharina Kohm

Ein utopischer Raum im Zeichen dystopischer Zukunftsprognosen – Teil 3


Lyrik im Anthropozän

Dass sich Lyrik vor allem auch im Hinblick aktueller gesellschaftlicher Debatten befragen lassen muss, entspricht ihrem eigenen Selbstverständnis. So diskutierten zum Thema "Poetiken im Wandel von Gesellschaft und Umwelt" unter der Moderation von Florian Kessler die Lyrikerinnen und Lyriker Daniel Falb, Anke Hennig, Andreas Bülhoff und Marion Poschmann. Daniel Falb attestierte der Dichtung eine Transformation hin zu einer neuen Form von Moralität aufgrund eines Neubeginns nach der Postmoderne, in einer Bewegung auf etwas zu, von dem man nur wisse, dass es der Anfang von etwas sei. Beispielsweise scheine der Begriff Anthropozän, innerhalb der global betroffenen Menschheit, nun etwas zu fassen, zu dem man sich auch poetisch verhalten müsse. Deshalb sei ja beispielsweise die Anthologie all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän, hrsg. von Anja Bayer und Daniela Seel, entstanden. Dabei dekonstruierte Falb den romantischen und, seiner Auffasung nach, überholten Naturbegriff, auch unsere Naturerfahrung als etwas, das seine Unschuld verloren habe. Die Frage sei, wie man sich dazu verhalten solle, wie man nachhaltig gestalten könne.

So neu wie dieser Zugang, befördert durch diese Begriffsbildung, erscheint, ist der Gedanke jedoch nicht. Anke Hennig schrieb der feministischen Bewegung der 70er Jahre eine ökologische Sensibilität wie auch einen pluralistischen und prozessorientierten Ansatz zu, der auch die Gegenwartslyrik und ihre Strukturen begründe. Denn sowohl die Kritik an der binären Ordnung wie auch die Kritik des Verhältnisses von Mensch und Natur sieht sie u.a. bei Donna Haraway angelegt, die schon in den 80er-Jahren einige Kernpunkte dieser Debatte vorwegnahm. Da die Gegenwart als ein simultanes Zusammenkommen aller zeitdimensionalen Faktoren erscheine, sei die Frage umso wichtiger, auf welche Weise man auf Gewesenes zurückkomme, in welchem Modus sich ein Diskurs bewege.

Falb kam noch einnmal in Bezug auf die Neuen Medien und die Geschwindigkeit von Neuerungen auf das Problem des schnellen Veraltens und den Zwang zum Agieren und der Diktion „Aktualität im Gedicht zu verhandeln“ zurück. Die eigene Produktion werde zusehends schneller historisch. Andreas Bülhoff beschrieb ebenfalls, dass die Medien den Prozess des Schreibens entscheidend veränderten. Dieses Bewegen zwischen Verweisungstraditionen, Reflexion und ständigem Zwang zur Transformation erscheine in der Lyrik noch einmal konzentrierter gespiegelt und gestaltet. Die Trennung, und somit die Dichotomie zwischen Gesellschaft, Ökologie und Technik sei nicht real, es gebe kein Außerhalb, wenn alle betroffen sind. Dieser Gedanke findet sich ebenfalls bei Haraway in ihrem vielzitierten Aufsatz A Manfesto for Cyborgs von 1985. Die Frage, ob Lyrik auf die Dynamiken und Fragen der Zeit anworte, oder ob sie möglicherweise umgekehrt ihrer Zeit vorauseile, wurde nur verhalten beantwortet. Dennoch wurden der Lyrik von Marion Poschmann zeitlose Fähigkeiten zugesprochen, und die Frage endete in dem Gleichnis vom Hase und Igel, die Lyrik sei immer schon vorher da. Die Frage aber sei auch, ob man diese Frage so pauschal auflösen könne.

Die Frage nach einem Traditionskontext aktueller Gedichte beschäftigte die darauf folgende Veranstaltung, die vom Leiter des Münchner Lyrik Kabinetts, Holger Pils, moderiert wurde. Hier konnte man einige Fragezeichen vorhergehender Diskussionen wiederfinden, wie eben jenes nach einem Kanon und der eurozentristischen kolonialen Vergangenheit auch der Bildung von Traditionslinien innerhalb der Literatur. Wieder unter Bezugnahme auf den russischen Dichter Ossip Mandelstam wurde von Ilma Rakusa ein lebendiger Rekurs auf Tradition als Prozess des Fortschreibens beschrieben. Der Umgang mit der Tradition führte bereits in der russischen Avantgarde zu Diskussionen. Sicher scheint aber, dass durch ein Rückverweisen im Kunstwerk wiedergewonnene Aktualität entstehe. In vielen Ländern fehlten, laut Ricardo Domeneck, Traditionslinien, bspw. in Brasilien, wo unter anderem auch durch die französische Besatzungszeit in Portugal erst seit etwa 20 Jahren indigene Sprachen und ihre Art ritueller Poesie wieder neu tradiert werden. Ein wachsendes postkoloniales Bewusstsein mache solche Entdeckungen erst möglich. Umdeuten von Tradition finde ständig statt.

Die Frage nach einer Verfügbarkeit von bestimmten Traditionen ist demnach eine politische. Lea Schneider stellte diese Freiheit der Verfügbarkeit von Tradition infrage; sie müsste u.a. immer wieder ausgegraben werden, aus dem Kanon oder auch an diesem vorbei. Das Bild des Ausgrabens könnte auf Walter Benjamins kurzen Aufsatz Ausgraben und Erinnern zurückgehen, der während des Kongresses häufiger verwendet wurde, um die Lyrik auch in dieser Verantwortung zu sehen. Kanon bedeute Gewalt, Filtern, Vergessen, Kanonisierung, Kolonialisierung. Diesen Mechanismen, denen man sich scheinbar stark bewusst ist, gilt es, etwas anderes entgegenzusetzen, vorzuleben. Gerade durch die Neuen Medien könne die konservative Traditionsbildung als ein politischer Akt unterwandert werden durch die Wiederentdeckung vergessener Dichterinnen und Dichter, so Domeneck. Auch die Übersetzerinnen und Übersetzer von Lyrik können durch ihre Tätigkeit dazu beitragen, Vergessenes und Fremdsprachiges zu vermitteln. So appellierte Schneider auch an die Lyrikerinnen und Lyriker im Raum, mehr zu übersetzen und mehrere Sprachen zu lernen. Daniela Danz, die anstelle von Marcel Beyer auf dem Podium saß, betonte, dass gerade die Lyrik durch ihre reflexive und konzentrierte Verwendung von Sprache auch an dieser Stelle dazu prädistiniert sei, ihre Sprachverwendungstraditionen zu reflektieren. Das temporäre Vergessen bestimmter Stimmen könnte einzelbiografisch durch die individuelle Erinnerung und Rückbesinnung, auch durch partielle Zitation oder polyglotte Formen im Gedicht zur Reflexion und Erweiterung oder gar Abschaffung eines Kanons führen, der im Grunde möglicherweise auch nicht mehr zeitgemäß ist. Das wäre erneut ein utopischer, neuer Pfad innerhalb der Literaturgeschichte und ihrer bisherigen Generierung.

Gleichzeitig muss man aber sagen, dass die Kanonisierung innerhalb der Literatur schon mit Beginn des Wählens eines Verlags, mit dem Gewinnen von Preisen, mit der Einladung zu Veranstaltungen allgegenwärtig ist. Das Selbstverständnis, als Lyrikerin oder Lyriker aufzutreten hängt eng mit der Spiegelung und Akzeptanz des Umfeldes zusammen. Diese heiklen Themen wurden bei der letzten Podiumsdiskussion offenbar, die Alexandru Bulucz moderierte und die im Grunde einige schon angesprochene und ausgeführte Diskussionspunkte ansprach, jedoch in einem anderen Licht. Der Titel »Zwischen Pluralismus und Kanonisierung« ringe Respekt ab, denn er zeige allein schon, dass sich die Szene dieser die Gegenwart beeinflussenden Mechanismen bewusst sei und dass genau darüber auch gesprochen werden müsse. Bulucz stellte der Diskussion die freiheitlich demokratische Grundordnung voran und machte schon zu Beginn klar, dass hier eine Diskrepanz zwischen Grundgesetz und Kanonisierungspraxis bestehe.

Ann Cotten sah den Zweck auch dieser Diskussion in der Infragestellung und der Entmonopolisierung einer Macht von Kanonisierungen. Die Frage auch, wer in eine Jury zur Vergabe eines Preises berufen ist, wer wen empfiehlt, Celan zitierend: miemand zeuge für den Zeugen, mache diese Frage zur der entscheidenden in Bezug auf ein Nicht-Vergessen werden.

Die slowakische Lyrikerin Anja Golob schilderte diesen Zustand des Zwischen-Seins und einer ganz klaren Grenze von Partizipation, an die sie selber immer wieder stoße. Poesie sei ein Platz der Freiheit, der auch aus einer politischen Haltung heraus eingenommen werde. Dennoch werde ihr nur bis zu einer gewissen Grenze Partizipation zuteil, sodass in ihrer Außenwahrnehmung die eigene Dichtung statt zu einer Seinsdefinition zum Hobby herabgestuft werde.

Der syrische Dichter Rami Al-Asheq verwandte den Begriff des Supermarkts auch für den schönen Schein von Pluralismus. Die vorgestellten Stimmen seien immer auch durch eine Vorauswahl unter bestimmten Prämissen hindurchgegangen. In seinem Fall werde er als Flüchtling und Dichter instrumentalisiert, ihm werde vorgeschrieben, zu welchen Themen er zu dichten habe, um die Erwartungshaltung eines westlichen Publikums zu erfüllen. Dieses Problem wurde schon tags zuvor von Mujila angesprochen. Man sei kein Lückenfüller oder Quotenmensch. Die eigenen Lebensumstände seien zudem nicht alleiniger Teil der Identität als Dichter. Solch Dialog sei im Grunde nicht gesund. Es scheine auch schwer, aus dieser verinnerlichten Haltung bei schon erfahrener und immer wieder darauf zurückgeworfener Marginalisierung, Funktionalisierung und/oder Reduktion und Zensur, sich selbst ein eigenes Selbstverständnis zu erhalten und sich die Freiheit zu bewahren, über das zu schreiben, was man schreiben möchte.

Derweil kam Olga Martynova, selbst von Marginalisierung oder Funktionalisierung nicht in dem Maße betroffen, auf die Frage von Wertekriterien für gute und schlechte Gedichte zu sprechen. Auch Ann Cotten bezog sich auf das Problem von Lyrikkritik und attestierte dabei mangelnde Begriffsschärfe. Schon in Bezug auf die Debatte anlässlich der Anthologie Lyrik von jetzt 3 war seinerzeit die Frage um richtige Lyrikkritik entbrannt.

Der Lyrikkritik fehle es an klaren Begriffen, auch an der Fähigkeit, ein Gedicht zu bewerten. Diese fehlende Urteilskraft sei mitunter auch für die mangelnde Tiefe renommierter Zeitungskritiken im Feulleton verantwortlich. Hier, könnte man sagen, sei die Lyrik ihrer Kritik voraus. Auch wurde die Faulheit einiger Veranstalter bemängelt, sich differenziert über Lyrik zu äußern, die sich dann schnell dazu hinreißen ließen, ebenjene politischen Klischees zu bedienen, von denen Al-Asheq und Golob sprachen. Man sollte, so Cotten, gemeinsam an einer Aufklärungskultur arbeiten, die souverän mit wissenschaftlichen und lyrischen Begrifflichkeiten arbeite. So wären Wissenschaft, Lyrik und ihre Rezeption produktiv zu vereinen, bzw. in Bezug zueinander zu setzen, ohne dabei der Gefahr einer Vermischung anheimzufallen. Dabei müsse es Standards geben und eine gewisse Wörterbuchpflege betrieben werden. Zudem scheint der Solidaritätsgedanke und auch das solidarische Handeln untereinander das Mittel gegen Kanonisierung von oben zu sein.

Mit der tags darauf stattfindenden Pressekonferenz wurden die Rahmenbedingungen für das Weiterarbeiten in den jeweiligen Bereichen, in einer ausgearbeiteten Präambel, vorgestellt, die die jeweiligen Arbeitskreise, die während des offiziellen Rahmenprogramms stattgefunden hatten, erarbeitet wurden. Dies betrifft vor allem formale und finanzielle Forderungen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen.

Dieses Papier, sowie der gesamte Festivalkongress, sollen kein finales Ergebnis darstellen, sondern als ein weiterer „ins Wasser geworfener Stein, der Wellen schlägt“ fungieren, wie es Friederike Tappe-Hornbostel formulierte. Monika Rinck verkündete am Ende des Kongresses den Gewinner des Frankfurter Lyrikpreises, Sebastian Unger, für sein Debut Die Tiere wissen noch nicht Bescheid. Dieser erstmalig und vielleicht auch einmalig verliehene Preis wurde zuvor im Rahmen der Veranstaltung in einer öffentlichen Jurysitzung ermittelt.  

Bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtige Lyrikszene so semipermeabel bleibt und sich weiterhin offen für Impulse und Dynamiken zeigt und ihre Solidarität bewahrt und erweitert. Denn nur unter dieser Prämisse könnte jenes Neue entstehen, das Daniel Falb zu umreißen versuchte, nicht nur großartige, vielstimmige Lyrik, sondern auch ein neuartiger Umgang miteinander, und die stärkere Begegnung mit Lyrik und ihren Akteuren zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, sodass die romantische Idee der Poetisierung der Gesellschaft zu einem besseren Miteinander führt.

Das jedoch ist tägliche Arbeit, die honoriert werden muss, wenn man weiterhin Luftwurzeln schlagen will in diesem Wanderzirkus und darüber hinaus.
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