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Jörg Neugebauer: Drei Miniaturen

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Jörg Neugebauer

Drei Miniaturen


Rehe

Ich hob die Banane auf, auf der ich fast ausgeglitten wäre, beziehungsweise die
Schale. Die Banane selbst musste jemand verzehrt haben, denn die Schale war
leer. Ich sollte sie dem Förster aushändigen, dachte ich, der weiß bestimmt über
den Verbleib der Banane Bescheid. Zur Atzung! zur Atzung! hörte ich da jemanden rufen, der ein Rudel Rehe vor sich hertrieb. Das muss der Förster sein! und ich
näherte mich mit bedeutsam erhobener Schale. Im Winter ist alles zwecklos,
stöhnte der Förster, dessen schneeweißer Bart mich überraschte. Meinen Sie
mich? Ich heiße Sommer, haben Sie vielleicht eine Banane gesehen? Flüchtig,
sagte der Förster und tätschelte seine Rehe, die sich eng an ihn drängten. Wie
gehorsam die sind, lobte ich und dachte nicht mehr an die Banane. Ja, und alle
haben so schöne Augen, seufzte der Förster, als täten die Rehe ihm weh. Man
muss mit den Tieren nachsichtig sein, sagte ich, als ob ich mich auskennen würde.


Sinkflug

Ich kenne niemanden, und das ist auch gut so. Würde ich jemanden kennen,
könnte der sagen: das bist doch du! Aber ich will niemand sein,
niemand soll sagen können, wer ich bin. Ich will es selber nicht wissen.
Ich weiß, dass ich niemand bin. Das ist gefährlich, ich weiß. So vieles ist mir
bewußt. Ich behalt es für mich, die andern sollen nichts ahnen.
Ich leite den Sinkflug ein, wenn mir danach ist. Danach werden auch sie niemand
mehr sein. Ein paar einzelne wird man noch kennen, wie man von früher
jemanden kennt. Mich kennt niemand von früher. Mancher meint es vielleicht.
Doch keiner weiß, wer ich bin.



Bellenberg
Ich machte mich auf, von Unterhunden nach Oberhunden, blieb jedoch in Zwischenhunden erst einmal stecken. An einer Kreuzung, genauer gesagt, rechts
gings ab nach Bellenberg. In Bellenberg war ich schon einmal gewesen oder hatte zumindest davon gehört, ja gehört, als Kind hatte ich zugehört, wenn mein
Großvater mit Brennenstuhl sprach. Jedesmal hatte ich zugehört oder versucht
von ihrem Gespräch etwas zu erhaschen, denn Brennenstuhl sprach äußerst leise
und so dämpfte auch mein Großvater, oder "Opa", wie ich ihn nannte, seine sonst
sehr laute Stimme. Dennoch, als Kind hat man ja ein sehr feines Gehör, verstand
ich jedes Wort, das die zwei alten Männer wechselten. Nicht dem Sinn nach
natürlich, was versteht schon ein Kind, das noch nicht mal die Schule besucht, von
den Bewandnissen älterer Männer. Dem Sinn nach verstand ich überhaupt nichts
oder fast nichts, nur ganz ungefähr ahnte ich, wovon sie sprachen und dass es sich dabei um Schwerwiegendes handeln musste, denn beide senkten immer wieder
die Köpfe und schwiegen und machten mm-mmh und ja-ja und räusperten sich in
die Stille hinein. Eigentlich vernahm ich nur Laute, wenn sie etwas sagten, und
einmal sagten sie "Bellenberg", einer von ihnen zuerst, natürlich sprachen sie die
drei Silben nicht unisono, einer, ich weiß nicht mehr, war es mein Opa, freilich
kann es ebensogut Brennenstuhl gewesen sein, einer machte den Anfang und
sagte "Bellenberg", worauf der andere nickte, als wisse er, was damit gemeint
war, und entgegnete mit einem Satz, in dem ebenfalls "Bellenberg" vorkam, so
dass ich, der ich sonst so tat, als sei ich mit einem kindlichen Spiel beschäftigt, aufschaute, was aber keiner der beiden Männer bemerkte, jedenfalls schenkten
sie dem keine Beachtung. Darauf nun sagte einer, also der, an den der letzte Satz gerichtet gewesen war, wieder etwas mit "Bellenberg", um einen gewissen Hauser
ging es, Hauser oder auch Holzer, der wohnte anscheinend in Bellenberg, soviel
konnte auch ich schon verstehen, dieser Hauser oder auch Holzer wohnte also in Bellenberg, und zwar neuerdings, war nach Bellenberg "umgezogen", wie es hieß,
an das Wort erinnere ich mich genau. Mindestens dreimal war von Bellenberg
wörtlich die Rede, ehe mein Großvater und Brennenstuhl von etwas anderem
sprachen, zwar weiter von diesem Holzer oder auch Hauser, jedoch nicht mehr
von Bellenberg, weshalb ich mich an den Fortgang ihres Gesprächs auch nicht
erinnere, das vermutlich die Ehe des Holzer oder auch Hauser betraf oder
irgendetwas mit seinem Beruf, freilich ohne dass dabei Wörter gefallen wären, die
mich hätten aufmerken lassen, Wörter wie "Bellenberg" eben. Viele Jahre waren
seither vergangen, bis, auf dem Weg von Unter- nach Oberhunden, ich an jene Kreuzung geriet, wo mir das Gespräch meines Großvaters mit Brennenstuhl
wieder einfiel.

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