Direkt zum Seiteninhalt

Jiang Tao: Auf dem Gras

Gedichte > Gedichte der Woche


Auf dem Gras

1977, einige Störenfriede wurden schon früh rausgepickt.

Die Gao Kao
¹ verlangte nach anderen Typen.
Flussauf und ab ersetzte das Zirpen der Zikaden
die landesweiten Trauerklagen.
Den durchgefallenen Jugendlichen blieb nur
wütend in ein Kissen zu schreien.
Und folglich wurden ihre Kinder hastig geboren,
bekamen Groll, Zorn und Wissensdurst vererbt.
Und wachsen diese Kinder auf, stimmen Talent
und Körper nicht überein.
Ihre enttäuschten Eltern sind da bereits nach
Shenzhen
² gezogen, nach Hainan: dem Meer
zugewandt, den Ventilator an.
Es gibt keine große, allumfassende Revolution.
Kein Auto, das kalte Luft ausstößt,
fährt es entlang der tropischen Küste, wo alles,
wirklich alles, ein Preisschild hat.
Wer würde da einfach nach Norden ziehen?
30 Jahre später wird es dank einer Abrisspauschale
möglich, sich um die nächste Generation zu kümmern:
Wenn die Eltern nach vielen Umwegen rückwärts
aus den Wolken in nummerierte Wohngebiete fallen,
bemerken sie erstaunt die Vielzahl
an Neugeborenen und ihre winkenden Hände auf
dem Gras. Ich weiß, die blicken finster drein,
sind tatsächlich die auf Zwergengröße
geschrumpfte Version ihrer Großeltern.
Sie haben bereits gelernt zu protestieren,
                   indem sie ihren Eltern den Rücken zuwenden.
Sie haben bereits gelernt,
                   ihre nassgepissten Flaggen wieder einzurollen.


Zum Original ...

(Jiang Tao: Auf dem Gras, Mai 2011.
Erscheint 2016 in einer Anthologie chinesischer Gedichte,
hrsg. von Lea Schneider, im Verlagshaus Berlin.
Aus dem Chinesischen von Daniel Bayerstorfer)

¹ Gao Kao (高考, chin. für „Hoher Test“) ist ein nationales Examen, dessen Bestehen den Zugang zur Universität ermöglicht. 1977, ein Jahr nach Maos Tod, ermöglichte eine grundlegende Reform durch Deng Xiaoping dem gesamten Volk die Teilnahme an der Gao Kao. Von Kindern bis zu fast Vierzigjährigen legten Millionen Chinesen die Prüfung ab, wobei nur ein Bruchteil tatsächlich bestand, was zu sozialen Unruhen führte.
² Shenzhen, zuvor eine Stadt mit nicht mehr als 30.000 Einwohnern, wurde im Mai 1980 unter Deng Xiaoping zur Sonderwirtschaftszone erklärt und steht seitdem exemplarisch nicht nur für den wirtschaftlichen Aufschwung im Süden Chinas, sondern für das ganze Land.

Zurück zum Seiteninhalt