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Jean-Pierre Brisset: Fürst der Denker

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Walter Fabian Schmid


Die hohe Kunst des Kalauers



Die Geschichte von Jean-Pierre Brisset (1837-1919) ist eigentlich unspektakulär bis armselig. Nach einer Lehre zum Pâtissier in Paris verpflichtet er sich beim Militär, zieht in den Krimkrieg und als Bataillonsführer gegen die Preussen, wird zweimal verwundet, arbeitet in Magdeburg als Sprachlehrer, und wird schliesslich bis zu seiner Rente Aufsichtskommissar bei der staatlichen Eisenbahn in Angers in der Region Pays de la Loire. Die Linguistik bleibt ihm lebenslang nur eine Nebenbeschäftigung. Seine Bücher will niemand lesen, obwohl er sie um den ganzen Globus schickt, und als seine sämtlichen Werke erscheinen, ist er schon 82 Jahre lang tot.

Falls man sich doch ein bisschen für ihn interessiert hat, dann unter psychiatrischem Aspekt, es war ja mit der grassierenden Psychoanalyse um die vorletzte Jahrhundertwende gerade en vogue, alles zu psychologisieren, und ein „Verrückter“ kommt da natürlich ganz recht. Als dann doch noch literarisch jemand auf Brisset aufmerksam wurde, stellte sich das Ganze auch als Farce heraus: Jules Romains, der ihn entdeckt, ist fasziniert von seinen ungewöhnlichen Ansichten und seinen Sprach-spinnereien, aber vielleicht auch nur, weil er ihn selbst für nicht ganz zurechnungsfähig hält, und deswegen ist er ein leichtes Opfer für einen guten Scherz. Weil in Paris gerade für jeden Schmarrn ein Fürst gekürt wird, wählt ihn die Societé d'Idéologie auf Vorschlag von Romains zum „Fürsten der Denker“. Die Ehrenveranstaltung vorm Panthéon in Paris ist natürlich ein PR-Gag, bei dem der naive Brisset schön mitspielt, was der damals anwesende Stefan Zweig in seinem Tagebuch ganz gut zusammenfasst:

„Sonntag 13. April.
Eine köstliche Sache. Die Ankunft des „Prince des Penseurs“, diese göttliche Komödie, die nur in Paris möglich ist. Mittags sehe ich mir die drollige Raymonde an, nachher mit Schwerdtfeger zuerst bei der Büste, wo der kleine verhutzelte alte Mann aus Angers mit seinem farblosen Cylinder eine dumme Rede hält. Hunderte Leute aus Spass haben sich zugedrängt (...), ohne dass der Jubelgreis etwas merkt, ebensowenig sein deutscher Neffe von dem Ulk über die „Froschheit“. Dazu Musik grauenhaftester Sorte, Gedichte, eine vergoldete Büste, und entsetzlicher Radau. Die Stimmung wird allmählich bachantisch, auf der Strasse wird „Vive Brisset“ gebrüllt, die Büste des Greises auf das Pflaster gestellt und im Reigen umtanzt.“

Und doch könnte die Geschichte von Brisset schillernder nicht sein. Robert Desnos und Guillaume Apollinaire sehen ihn später als einen Vorreiter des Surrealismus und André Breton nimmt ihn in seine Anthologie des schwarzen Humors auf. Ezra Pound erwähnt ihn in den Cantos und Blaise Cendrars in seinem Gedicht Tour. Marcel Duchamp sagt in einem Interview 1946 sogar „Brisset und Roussel waren die zwei Männer, die ich in jenen Jahren am meisten bewunderte wegen ihres Phantasiedeliriums“ und versuchte 1937 und 1955 vergeblich Neuauflagen von Brisset in die Wege zu leiten. Letztlich wird er 1949 bei der Gründung des Collège de Pataphysique sofort zum Heiligen erklärt. Denn Jean-Pierre Brisset ist nichts weniger als der Gründer einer neuen Linguistik und Theologie.

Die Wissenschaft Gottes gründet er auf Homophonien, Paranomasien und Paronymen, und vollzieht statt einer unendlichen Semiose eine unendliche Phoneose. Sicher ist das etwas abwegig, aber höchst interessant und amüsant. Das Schlimme ist nur, dass es sein absoluter Ernst war: „Alle Ideen, die mit gleichen Lauten ausgedrückt werden, haben denselben Ursprung und beziehen sich alle auf ein und denselben Gegenstand. (...) Dieses Gesetz ist in aller Strenge unangreifbar.“ Wenn man aber davon ausgeht, dass alle Wörter, die gleich klingen, in einem Verwandtschaftssystem stehen, dann gibt es natürlich semantische Paradoxien, auf jeden Fall überraschende Einsichten. Über Gott schreibt Brisset z.B.

Das Wort dieu bezeichnet in gewissem Sinne alles, was für das Auge | d'yeu oder was sichtbar ist. Auf diese Weise sieht man in Gott als Wort und als Geist den Beginn der Schöpfung. (...)
Dis, euh! Dieu! war eine häufige Anrede bei den Göttern, um zu zeigen, was sichtbar, was vor den Augen | d'yeux war. Dies ist der Grund, warum der im Geist Blinde der Einzige ist, der weder mit dem Auge noch mit Gott sieht | ni d'yeu ni dieu, weder mit den Augen noch die Götter | ni d'yeux ni dieux. (...) Die Götter sind sichtbar, denn es sind die Menschen. Das Pronomen eux, das man für die Götter gebrauchte, entspricht daher nur den Menschen. (...)
Unter den Göttern findet man bisweilen einen grundguten. Man erkennt ihn am gütigen Auge: le bon d'yeu, le vrai d'yeu | das gütige, das wahrhafte Auge, le bon Dieu, le vrai Dieu | der gütige, der wahrhafte Gott. Aber die Götter waren im allgemeinen falschäugig, faux d'yeux | böse und schändlich.

Weil Brisset im Wort die Offenbarung sieht und selbst mit 45 Jahren eine Jesusvision hatte, fühlt er sich berufen mit seinen linguistischen Methoden eine neue Schöpfungsgeschichte zu schreiben. Nicht sonderlich überraschend ist, dass er den Ursprung des Lebens im Wasser findet. Wie er daraus aber die Sesshaftigkeit des Menschen ableitet, ist schon aussergewöhnlich.

Sehen wir, wo diese Vorfahren gewohnt haben | étaient logés : L'eau j'ai = ich habe Wasser oder ich bin im Wasser. L'haut j'ai = ich bin da oben, oberhalb des Wassers, denn die Vorfahren erbauten die ersten Wohnungen überhalb den Gewässern. L'os j'ai = ich habe den Knochen oder die Knochen; man verspeiste sie, wo man wohnte. (...) Loge ai = ich habe eine Loge, eine Wohnung. Die erste Loge (...) war ein im Wasser eingerichteter Ort. (...) Zu wohnen | être logé ist das natürliche Los | le lot naturel. Wer nicht logiert, hat sein Los verloren. L'auge ai = ich habe meine Tränke. (...) Man war also ursprünglich wohnhaft im Wasser und an den Ufern der Gewässer | à l'eau berge, in der Herberge | à l'auberge; du bist es in den Gewässern | dans les eaux t'es le = dans les hôtels | in den Hotels. (...)
Wie die Menschen haben die Wörter einen gemeinsamen Ursprung, und jede Silbe bezog sich aufs Wasser. Das Wasser hat alles erschaffen, selbst die Sprache, die aus Wasser besteht, insofern jedes Wort, das ausgesprochen wird, einen Ausstoss von Wasserdampf hervorbringt.

Der Ursprung des Menschen allerdings ist für Brisset der Frosch. Und das ist für ihn ganz logisch, da muss man nur mal genau hinhören, was der Frosch ruft: Coac, Coa. Da hört man eindeutig die Frage Quoi. Was? Was sprichst du? Was ist sie, die Sprache, in der die Existenzgrundlage liegt? Nur hat der Frosch eben noch keine Geschlechtsorgane, keinen Daumen oder Hals, keine Haare oder Zähne. Deswegen macht sich Brisset daran, diese Evolution homophonetisch zu beschreiben, bis er letztlich beim Menschen angekommen ist, bei Mann und Frau.

Die Geschichte der Frau steht in ihrem Namen geschrieben. Es sind zwei Imperative: Famé, fais-moi | Mach mir, femme | Frau; damé | Dame, donne-moi | gib mir (...) Éva. Eh! va. | Geh, lauf. Und der Mann, wie hieß er? Adam, ruhend. Im Dialekt der unteren Normandie sagt man, adan setzen, was sich nicht bewegen soll. Homo, uomo, homme. Au mot. | Beim Wort. Es ist die Aufforderung zum augenblicklichen Gehorsam.

Dass so eine Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie zur damaligen Zeit auf Unverständnis stiess, ist kein Wunder. Hätte sie Brisset allerdings nicht mit absoluter Gültigkeit behauptet, sähe das vielleicht anders aus. Deswegen muss man ihn stellenweise losgelöst davon und aus rein sprachlicher Sicht lesen. Für ihn liegt der Ursprung jeder Sprache in ihr selbst. Es gibt keine Ursprache, sondern nur die vorhandene, weswegen er auch das Lateinische eliminiert. Und das war vielleicht sein zweiter Fehler, weil er sich damit jegliche etymologische und chronologische Basis nimmt, zumindest im Französischen, und ausschliesslich von dem geht er aus, es eignet sich ja auch hervorragend für homophonetische Analysen. Abstecher ins Italienische und Spanische sind rar, mehr noch ins Deutsche, was nicht nur unrepräsentativ, sondern auch schade ist, denn sonst würde Brissets Verfahren noch viel schönere Blüten treiben.

Trotzdem stellt Michel Foucault in einem seiner Essays zu Brisset, nämlich in Sieben Thesen über den siebten Engel, der in dem Buch enthalten ist, zurecht fest: „Brissets Ursprache ist (...) ein grenzenloser Diskurs, dessen Beschreibung sich niemals abschliessen lässt. (...) Ein und dasselbe Wort kann auch mehrfach durch den Filter dieser Analyse geschickt werden. Seine Zerlegung ist weder eindeutig noch ein für alle mal abgeschlossen. (...) Nach dem Ursprung der Sprache suchen hieß für Brisset (...) vielmehr, jede einzelne Sprache für eine grenzenlose Vielfalt zu öffnen.“ Und so gibt das Buch mit einem grandiosen Essay von Maximilian Gilleßen einen wunderbaren Einblick in das Schaffen von Jean-Pierre Brisset. Mit all den beigelegten Dokumenten und Textauszügen aus La Grammaire logique (1883) und La Science de Dieu (1900) unter Vernachlässigung anderer Werke hat das Buch mehr zum Ziel, einen Überblick und ein Verständnis für Brisset zu schaffen, als ihn in seiner Gänze zu zeigen. Aber selbst mit kopfschüttelndem Unverständnis machen seine phonetischen Hakenschläge unvermindert Spass.



Jean-Pierre Brisset: Fürst der Denker. Eine Dokumentation. Berlin (zero sharp) 2014. 384 Seiten. 25,00 Euro.

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