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Jan Kuhlbrodt: Der erste Kontakt

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Jan Kuhlbrodt


Der erste Kontakt

Zum 100. Todestag Trakls



Ich bin mir nicht sicher, ob die anderen mehr gelesen hatten als ich, ob sie mehr kannten, als dieses eine Gedicht, das auf dem Schuber gedruckt war. Im Schnee. Aber, was heißt schon kennen. Kenne ich einen Autor, wenn ich dessen Namen weiß? Seine Geburtsdaten, die Namen seiner Werke in chronologischer Reihenfolge? Ort und Umstand seines Todes? Was muss ich wissen über die politische Verfasstheit seines Landes? Was muss ich noch alles über ihn wissen?
Wahrscheinlich mochte ich damals, am Anfang der Achtzigerjahre, deshalb Bücher, die in Schubern steckten. Sie kamen mir edel vor. Ein Inhalt, den es mit besonderen Mitteln zu schützen galt. Ein Paperback hätte es nicht getan, auch kein Schutzumschlag. Es musste ein Schuber sein, ein Karton der Größe des Buches angemessen und in gleicher Stückzahl produziert.

(Später dann die Ernüchterung: Schuber und Schutzumschlag seien Gratisbeigaben des Verlages, sagte der Verkäufer im Buchladen in der Warschauer Straße/Berlin Ost, als wir Rabatt verlangten, weil der Schuber fehlte und der Schutzumschlag eingerissen war. Es ging um ein großformatiges Buch über Majakowskis Rosta-Fenster, das ein Kumpel trotz der Rabattverweigerung des Händlers kaufte, um es mir zum Geburtstag zu schenken. Da steht es. Aber zurück zum ersten Buch, dem mit dem Schuber.)


Links der Schuber,
rechts Jan Kuhlbrodt zur Zeit des ersten Kontakts


Es hat einige Zeit gedauert bis ich die einzelnen Teile heraus bekommen hatte: die Gedichte Trakls, der Essay Fühmanns und ein Heftchen mit Reproduktionen von Zeichnungen Schieles. Farbreproduktionen. Hin und wieder betrachtete ich eine Tuschzeichnung. Ein magerer Männerkörper, kurz vor dem Verhungern, und wahrscheinlich resultierte meine Faszination genau aus jener Versehrtheit. Eine Versehrtheit die ich nicht kannte, oder nur vom Sehen kannte, von Bildern, die mir gezeigt wurden, vielleicht um mein Mitleid zu erregen, oder die mein Mitleid erregten, obwohl sie es gar nicht sollten.
Eine knapp bemessene Hülle, in der die Bücher eher klemmten als steckten. Und ich weiß nicht, ob ich dieses Gedicht (Im Schnee) schon kannte, weil ich es gelesen hatte, vom Schuber abgelesen oder im Buch danach gesucht hatte oder irgendwo anders gelesen; vielleicht ist es mir irgendwo aufgesagt worden, lange bevor ich das Buch gekauft hatte, von einem Angetrunkenen am Nachbartisch rezitiert, während der Kellner mit einer kleinen Bürste die Asche von der Tischdecke entfernte (sehr akkurat, wie es nur mit dieser speziellen Bürste möglich war); Asche die aufgrund ihrer Leichtigkeit nie vollständig im Aschenbecher landete.
Die Bücher steckten also in Schubern und die Tische in den Kneipen hatten Tischdecken. Weiße! Ich sah dem Kellner zu und hörte gleichzeitig auf das Gedicht, das zu mir herüberklang, stoßweise die Verse eher versehentlich als Verse gesprochen. Aber Stoßseufzer waren es nicht. Im Gegenteil. Man hörte, dass der Sprecher schon einiges getrunken hatte, und dass er sich Mühe gab, den Alkoholpegel auszugleichen. Aber statt deutlicher zu artikulieren, wurde er nur immer lauter und die Luft, die er angestrengt zwischen seinen Lippen herauspresste, wurde von Speicheltropfen begleitet. Ich hörte es, ich hörte die Tropfen wie einen entfernten Regen, oder ich bilde mir nur ein, dass ich sie hörte. Ich hätte es nicht sehen mögen. Im Schnee. Regen eher. Und wahrscheinlich ist auch erst November gewesen. Das Schuljahr war in vollem Gange, die Zeit aber, die noch kommen sollte, schien endlos, selbst in diesem Jahr. Endlos bis zum Abitur, das mir letztlich auch nichts nützte, denn ich hatte mich für einen langen Wehrdienst verpflichtet, wollte der Schuber des Sozialismus sein, eine Gratisbeigabe der Geschichte im Weltbuchhandel.

Die Anwesenheit der Texte in Büchern, die in Schubern steckten, war mir damals ein Versprechen, das in eine lichte Zukunft wies. Du wirst lesen! Gut. Noch war es eher anstrengend, weil ich oft den Faden verlor und mein Verständnis vom Verstehen sich eben an den Fäden ausrichtete, die angeblich die Bücher durchzogen. Sicherungsseile. Wegmarkierungen.
Ich werde lesen, ich, obwohl wir alle dieses Buch besaßen, vielmehr diese drei Bücher: Schiele Fühmann Trakl. Doch wir sind visuell geprägt, könnte ein Essayist jetzt behaupten, der Gesichtssinn ist unser wichtigster, doch ich glaube, mein Geist hatte damals eher nicht die Zeit, sich wie eine Glucke auf dem Texten niederzulassen und Sinn auszubrüten.

Grauer Schuber, braune Schrift und braunes Leinen: Der Wahrheit nachsinnen, viel Schmerz, und ich weiß auch nicht, ob ich in Erfahrung brachte, wie dies mit dem Ende zusammenhing: der Mondnacht, der bleichen Göttin, aber der Ausdruck hatte mich (wie soll ich sagen?) nachhaltig erschüttert. Trakl for ever!

(Ah. So ist das mit dem Wissen: man muss es in Erfahrung bringen. Je mehr ich über diesen Ausdruck nachdenke, umso unheimlicher wird mir, und umso mehr Dinge fallen mir ein, die ich aus meiner Erfahrung besser heraushalte. Viel Schmerz. Und wir pflanzten einen Baum vor das Schulhaus, in dem wir nie einen Text von Trakl präsentiert bekommen hatten, und zitierten im kleinen Chor (meine Freunde Thomas und Thilo und ich) diese Verse.

Vielleicht war das der Anfang, oder er liegt länger zurück, in einer Bauschuttphase der Erinnerung, begraben unter Texten, die es nicht wert sind, an dieser Stelle erwähnt zu werden, die ein anderes Thema verlangen, ein anderes Tempo, einen anderen Text, irgendetwas Politisches im engeren Sinn. Nach Jahren kam ich zufällig an diesem Chemnitzer Schulhof vorbei, dem Schulgebäude, dass inzwischen gute dreißig Jahre auf dem Buckel hatte, das also etwas jünger war als ich selbst und dennoch wie provisorisch in der Gegend herumstand. Der Baum aber, war angewachsen und hatte aus der Krone neue Wurzeln getrieben. Bäume scheinen wesentlich flexibler zu sein, als …

Lesen ist letztlich auch, aber natürlich nicht nur, eine Verfertigung fremder Gedanken im eigenen Kopf. Ich mache mir also, wenn ich lese, die Gedanken eines Anderen zu eigen. Ein Spezialfall sind meine eigenen Gedanken, denen ich zuweilen begegne. Manchmal sogar, ohne sie zu erkennen. Ein Rest Vertrautheit vielleicht. Bleibt sichtbar. Die Gedanken eines anderen, oder was von ihnen übrig ist. Was die Schrift übrig gelassen hat. Das Tonband, die Luft. Irgendein Medium, das mir die fremden Gedanken zugänglich macht. (Und das mir die eigenen Gedanken fremd werden lässt).
Ein Nachdenken anhand verfertigter oder geronnener Gedanken. Die Wahl des Begriffs folgt der Position des Lesers oder Rezipienten. Das Hirn bildet nach, was ein anderes Hirn, das es auch selbst sein kann, eben zeitlich oder räumlich unterschieden, vorgebildet hat. Es treffen somit zwei Situationen aufeinander, Situationen, in denen gedacht wird oder wurde. Doch bei alldem ist der Text ein Filter, der Gedachtes formiert und verhindert. Nicht der ganze Gedankenklang findet den Weg in den Text. Störgeräusche der Umwelt, die den ersten Gedanken begleiteten, ablenkten, bleiben außen vor. Das Mäandern des Denkens im Text ist ein Restmäandern, der Flusslauf ist zum Teil begradigt. Sein Ursprung nicht rekonstruierbar, verschwunden, weg. Der Text ist ursprungslos. Im Text geht auch ein Teil des Textes verloren. Schreiben also ist (auch) Spuren verwischen. Der Leser setzt diesen verlorenen Rest wieder zu. Das macht eine Wertung des Textes schwierig, wenn nicht unmöglich. In jedem Fall aber ist sie subjektiv und nur bedingt nachvollziehbar.

Es war im Sommer 83. Eher August als Juli, als ich kurz hinter Brno am Straßenrand saß und immer wieder die erste Seite von Jack Kerouacks On the road las. Ich kam einfach nicht ins Buch und wir, Thilo und ich kamen einfach nicht weg aus Brno. Nach ein paar Stunden sammelte ein Bus mit fröhlichem Fahrer die verzweifelten Tramper ein und brachte sie nach Bratislava. Auch im Bus las ich immer wieder die erste Seite von: On the road. Am Abend dann noch in Komárno/Komárom und später in Budapest. Das hat wenig mit Trakl zu tun, außer vielleicht, dass kurz hinter Bratislava, auf der anderen Seite der Donau, Österreich lag und für mich als Bürger der DDR unerreichbar war.

Im Vorsatz zu jenem Essay, der in dem Schuber steckte, zitiert Franz Fühmann Rilke: „Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug) – es sind Erfahrungen. Um eines Verses Willen muss man viele Städte sehen ...“

Uns blieben damals aber nur Karl-Marx-Stadt und Dresden, ein Drittel Berlin und in den Ferien Prag oder Budapest. Wir mussten uns die Erfahrungen leihen. Fühmann bot uns als Leihgeber Trakl an, und er traf damit ins Schwarze, weil da eine Erfahrung war, die der unseren diametral entgegenstand, deren Schmerz wir aber verstanden, verstehen wollten oder zu verstehen glaubten.
Und da war eben auch unsere Stadt, oder das was wir so sahen:


Am Abend liegt die Stätte öd und braun
Die Luft von gräulichen Gestank durchzogen
Das Donnern eines Zugs vom Brückenbogen -
Und Spatzen flattern über Busch und Zaun.


Das ist die erste Strophe aus Trakls Gedicht Vorstadt im Föhn und eine exakte Beschreibung meiner Herkunftsstadt um 1982.

Klar, es war die Zeit der Hochpubertät. Jugendliche Verirrung. Zehnte Klasse, die allgemeinbildende polytechnische Oberschule lag hinter uns, es begann die Vorbereitung aufs Abitur. Zwei Jahre noch Schonfrist, bevor wir ins sozialistische Leben katapultiert werden sollten, was dann zuerst mal Armee hieß. Noch zwei Jahre Freiheit. Vor allem Freiheit von den Zwängen einer Berufsperspektive und einer dem Beruf untergeordneten Identität. Klar, wer Arzt werden wollte, oder Germanistik studieren, der musste sich schon ranhalten, der brauchte ein Einser-Abi.
Ich aber wollte das nicht und befand mich in einer Situation, in der Freiheit noch ahnbar war, und ich hatte einen Kumpel, der gar nicht erst das Abitur machen wollte. Er war also frei. Der Kumpel hieß mit Spitznamen Impe. (Ich lernte ihn über Millo kennen, einen anderen Freund, als wir zu dritt zusammen nach Dresden zur Kunstausstellung der DDR fuhren und unterwegs ein seltsames Gespräch führten darüber, ob eine Schiene lebt, oder nicht. Woher willst du das wissen, fragte Impe immer zu allem, was ich sagte. Dabei nahm er einen Zug von seiner Caro Zigarette. Impe war der erste von uns, der diese Kassette besaß, diese zwei Bücher im Schuber:)

Der Wahrheit nachsinnen
Viel Schmerz

Bd.1 Georg Trakl; Gedichte Dramenfragmente Briefe
Bd.2 Franz Fühmann: Gedanken zu Georg Trakls Gedicht
Zwischen diesen beiden braunen in Leinen gebundenen Bänden mit schwarzer Schrift klemmte eben noch dieses Heftchen mit Reproduktionen von Arbeiten Egon Schieles.

Jan Kuhlbrodt, ein Tag vor der Einberufung


Impe war also der erste, der diese Traklausgabe hatte; und er zitierte an einem Samstagnachmittag, die Schule war aus und die wenigen Geschäfte im Begriff zu schließen, das Gedicht: Im Schnee, aus dem der Titel stammte, in der Karl-Marx-Städter Fußgängerunterführung und befragte danach die Passanten: Was halten Sie davon? wollte er wissen, erhielt aber keine Antwort. Was hätten die Passanten auch sagen sollen.

IM SCHNEE
Nachtergebung (1. Fassung)

Der Wahrheit nachsinnen -
Viel Schmerz!
Endlich Begeisterung
Bis zum Tod.
Winternacht
Du reine Mönchin!


Ja, was hätten sie dazu sagen sollen?! Was hätten wir dazu sagen sollen?

Einmal in einer dieser Mehrzweckkneipen, im Versorgungszentrum im Karl-Marx-Städter Yorckgebiet, zitierte ein aus meiner Sicht älterer Mann, er wird so Ende zwanzig gewesen sein, dieses Gedicht aus dem Gedächtnis. Es war also da. Vielleicht war der Mann dabei gewesen, vorbeigekommen, als Impe es vorgetragen hatte. Und die geliehene Erfahrung führte noch weiter.
Das Gedicht im Schnee konnte ich singen. Und fast alle meine Freunde, das war die halbe Klasse, zumindest in meiner Erinnerung, hatten sich die Kassette besorgt.

Fühmann schreibt in seinem Essay über Trakls Gedicht Untergang:

Es prophezeit, was schon da ist, man sieht es nur nicht; in seinem Gedicht tritt es ins Bewusstsein, aber dies „es“ ist kein lokalisier- oder datierbarer Fakt. - Sein Gedicht meint nichts, es ist keine Allegorie, es sagt ein Modell des Untergehens, einen Prozess, nicht Ergebnis, ...


Vielleicht war es genau die Erfahrung, die wir uns erträumten, zumindest ich, denn ich hatte mich zu einem längeren Militärdienst verpflichtet - es war auch eine politische Pubertät: und diese Zukunft, die ich mir eingebrockt hatte, schwebte als Damoklesschwert über mir.

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