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Jan Kuhlbrodt: Das Unvollendete

Gedichte > Gedichte der Woche



Das Unvollendete

(Stötzers Abendgebet)

1

Nach Nietzsche werden Weltbilder
verworfen, kaum dass sie formuliert
nachdem alle Gewissheit aus den Steinen
gerissen und im Naturlicht verfiel.

Die Schreine nun offen wie Schlafzimmermöbel
in verlassenen Häusern, wenn die Flut
doch nicht hereinbrach, auch Feuersbrunst nicht.

Möbel wie offene Münder, eingefroren im Moment
größten Schreckens. Schränke, Kommoden
offene Fragen im Angesicht
der ausgebliebenen Katastrophe.

Oder war dieses Ausbleiben die Katastrophe?

Später trifft man nur noch auf Geste.
Was hat die Bewohner getrieben, die Wohnstatt
Hals über Kopf zu verlassen?
Was haben sie mitgenommen?
Wie sehen die Gebäude aus,
die sie jetzt bewohnen
und wo wohnen sie jetzt?  
Das die Fragen vielleicht,
die einst sich Raumfahrer stellen,
wenn sie eine verlassene Erde vorfinden.
Und sie werden versuchen, Inschriften
die mit Lippenstift und Rasierschaum
auf die Spiegel geschrieben sind, zu entziffern.

2

Beim Sprechen über Bäume
fällt mir vieles ein, das nichts
mit Bäumen gemein hat, auch
in meinen Träumen bleiben sie
Rohstoff nur. Biegsames Material.

Das Ende des Kapitalismus
ist nicht das Ende schlechthin,
aber ob es ein Anfang ist
zeigt sich an der Vergangenheit
die sich dann abzeichnet plötzlich.

Schöpfung, Prozess vieler
Götter. Ziehen durch die Straßen
die sie gebaut, um als Götter
durch die Straßen zu ziehen
dem einen Gott zu danken in Demut.

Wenn Waren die Sprache ersetzen
Wenn uns das Klappern der Schüsseln
Signal ist, aus den Höhlen zu gehen.
Und wenn wir mit einer Schüssel
Froh in die Höhle zurückkehren

3

Mit den Erlebnissen schwindet die Notwendigkeit
sich zu bewegen (oder ist es umgekehrt?)
Man wird jedenfalls mehr und mehr zum Inventar
einer Welt, die Erlebnisraum für andere ist,
deren Erinnerungsspeicher noch wenig gefüllt.

Somit nimmt auch das Leben nicht ab,
und es vergeht nicht. Es verändert sich
das Mischungsverhältnis von Erlebtem
und Erinnertem, und irgendwann
wird es enden. Vielleicht.

Als wüsste man nur in Trockenheit
wovon Johannes in der Apokalypse
spricht, wenn er von Wasser spricht.
Sediment. Und die Marssonde
funkt Bilder, auf denen im Marssand
eine weiße Substanz zu sehen ist.
Wenn diese unter der Sonne verschwände,
dann wäre es Eis gewesen. Und Johannes
war Astronaut.

4

Weil das Schöne sich vom Guten trennte, weil das Schöne seinen
Zwilling sucht und nur ab und zu mit Gutem in Beziehung tritt,
im Modus One night stand und nicht im Versuch einer neuen
Verwandtschaft, taucht plötzlich jene Verneigung auf.
To the Glory of God. Als könnte ich (einen) Gott kennen.
Umgeben von einem undurchschaubaren Dickicht.
Umgeben von Leben. Nennt es Komplexität!

5

Einmal, während einer Nachtwache hätte ich den Befehl beinahe
ausgeführt. Stehen bleiben! Der erste Ruf. Stehen bleiben,
oder ich schieße! der zweite. Jetzt hätte ich durchladen müssen, und
ich hatte die Hoffnung, dass das Ladegeräusch, das Klicken des
Schlosses der Kalaschnikow den Eindringling davon abhalten würde,
sich meinen Rufen weiterhin zu widersetzen. Im trüben Schein einer
Postenlampe wühlte ein Igel sich durchs Unterholz, und ich beließ es
beim zweifachen Rufen. Aber vielleicht war es ja so, dass alles Zittern,
das sich uns in die Stimme legt, sie weich werden lässt, während  wir
immer noch über eine sichere Unterschrift, einen festen Strich
verfügen, hier nur die Hand zittern ließ.


Jan Kuhlbrodt: unveröffentlicht, 2016.

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