Isuf Sherifi: Die weiße Filzkappe
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						Timo Brandt
Gelebte Fremde, mit Zeitlupen eingefangen,
						nahegebracht 
						
						„ernüchternd schrillt das TelefonDein Vater ist krankEr ringt um den letzten Atemdas Glück hängt am Passan Vorschriftenan Fahrt Flughafen Ticket an ZeitGlück und Gott“
Haft und
						anschließend Exil: ein Schicksal, das viele Dichterinnen und Dichter im 20.
						Jahrhundert erlitten. Isuf Sherifi, ein mazedonischer Autor, der im Kosovo
						studierte und auf Albanisch schreibt, engagierte sich in den späten 80er Jahren
						für die Rechte der Albaner und landete im Gefängnis. Nach seiner Haftstrafe
						flüchtete er, Repressionen ausgesetzt, in die Schweiz, wo er seither lebt und
						arbeitet.
						
						In
						seinen Gedichten breitet er seine Seelenlandschaft aus, kurz und knapp, aber
						nicht nüchtern, sondern mit einer durch Erschütterungen noch nachschwingenden
						Präzision und einer Kraft, die selten etwas Haltloses hat, manchmal etwas
						Stoisches und die tiefe Abdrücke mit wenigen Worten hinterlässt. Dokumentierend
						und doch belebt durch Emotionales, erzeugt Sherifis Dichtung eine Art Zeitlupeneffekt,
						der einem die Worte mit ungewohntem Nachdruck einflößt.
						
						„Alle Vergessenden mögen vergessen werdenAuf den Prachtstraßen ihrer Erinnerungen mag ich nicht spazieren“
Man
						spürt die Vorwürfe, man spürt den Zorn, am deutlichsten aber schlicht die
						Distanz, die aber nicht mit Bitterkeit bestrichen wird oder deren Ruhe auf
						einen Zynismus abzielt, sondern die etwas von einem Aufbruch hat. Die Gedichte
						scheinen zu sagen: ich weiß, wie die Sache steht, und ich muss weg von diesem
						Stand, auch wenn ich an ihn gekettet bin, durch meine Erinnerungen, meine
						Sehnsucht, mein Heimweh; ich kann mich nicht lösen, aber ich weiß, ich muss.
						
						„Heimat ist Sonne, Himmel, Wasser, Stolz,auch wenn dies streng verboten sein kann.“
						Die
						gelebte Fremde, die Versuchung der Heimat und der Versuch einer neuen
						Perspektive sind wiederkehrende Themen des Bandes. Wie bereits erwähnt ist Sherifis
						Sprache reduziert und auch die Länge der meisten Gedichte beträgt nur wenige
						Zeilen. Sie versuchen nicht zu ergründen – sie erzählen von der Atmosphäre am
						Grund. 
						
						„in Erinnerungenständig das dünne Lichtwohin, weshalb“
Große
						Emotionen sitzen hier in kleinen Räumen: die Sätze scheinen förmlich vor
						Weitergehendem zu bersten. Vor allem, wenn sich in den Gedichten Bezüge
						ausmachen lassen, die über eine persönliche Auslotung hinausgehen. Und doch
						bringen die Gedichte Dinge auf den Punkt, wie eine ausführlichere Behandlung
						sie nicht auf den Punkt bringen könnte. Zum Beispiel heißt es in einem Gedicht:
						
						„Gott schliefals Screbrenica untergingund in Glut und Aschewieder vor uns stand.“
Überall
						Schmerzliches, das sich durch das Exil in eine Art Phantomschmerz verwandelt. Im
						Vorsatz zu dem Band heißt es:
						
						„Die gestohlenen Schuhe meiner SeeleGib sie mir zurück“
Die
						Seele ist da, aber die Schuhe, in denen man sein Leben lang gehen wollte,
						wurden einem abgenommen. Man muss lernen in anderen zu gehen. Aber man darf
						auch nicht verlernen, wie man früher ging, nicht vergessen wie sich die Schuhe
						anfühlten; denn vielleicht gibt es ja doch die Rückkehr. Exil bedeutet
						weitermachen und stillstehen. Weiterleben, in dem Versuch, sich von einem
						Leben, wie man es kannte, nicht zu weit zu entfernen. Von all diesen
						Dimensionen berichten die Gedichte, geben Abrisse, Eindrücke davon.
						
						„An der Peripherie meiner SeeleSpaziert ein neuer GedankeWie ausgeschnitten aus meiner Haut“
Mir hat
						der schmale Band sehr gefallen, weil er sich auf seine Stärken konzentriert und
						dadurch voller starker Momente ist. Es entstehen Miniaturen und Zeilen von
						hoher lyrischer Dichte und zugleich von hoher, schlagender Prägnanz. Eine ganz
						eigene Intensität kann man hier finden, in Zeilen wie:
						
						„Ganz weit entfernt voneinander und einander ganz nahBekämpfen sich Traum und Enttäuschung“
Wer
						gewinnt diesen Kampf? Selbst wenn der Traum gewinnt, ist er immer noch ein
						Traum. Ganz egal wie er ausgeht:
						
						„Die Hoffnung reitet wegAuf dem Pferd der Enttäuschung“
Isuf
						Sherifi: Die weiße Filzkappe. Gedichte. Frauenfeld (Waldgut Verlag) 2017. 80
						Seiten. 22,00 Euro.