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Helmut Böttiger: Die Gruppe 47

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Jörg Neugebauer

Von der Werkstatt zum Event



Ein dickes Buch über die Geschichte der Gruppe 47. Auf über 400 Seiten erfährt der Leser, wie es anno '47 begann und 20 Jahre später endete. Fast alle wichtigen Namen der deutschen Nachkriegsliteratur, Autoren, von denen man dies oder jenes gelesen, zumindest gehört hat, sind hier versammelt. Günter Grass etwa, der seit seiner fulminanten "Blechtrommel"-Lesung 1958 immer dabei war. Andere zogen sich allmählich zurück, so Heinrich Böll, dem die Gruppe zu "staatstragend" wurde. Individualisten wie Arno Schmidt oder Wolfgang Koeppen gehörten nie richtig dazu, wollten das wohl auch gar nicht. Und dann gab es noch die literarischen Cover-Girls, Ingeborg Bachmann vornweg, die 1954 tatsächlich das Titelbild des "SPIEGEL" zierte, die tragisch-erotische Gisela Elsner sowie Ilse Aichinger, die sogar die Ehefrau eines Gruppe 47-Mitglieds wurde: die von Günter Eich. Dieser war auch der erste Träger des Preises der Gruppe.

Die Bestimmung eines Preisträgers war aber nicht die Hauptaufgabe der meist dreitägigen jährlichen (zunächst halbjährlichen) Gruppentreffen. Vielmehr ging es darum, dass Autoren einander aus ihren gerade entstehenden oder soeben fertiggestellten Texten vorlesen und diese dann diskutieren - "Werkstattgespräche" sollten es sein. Wer las, durfte lediglich lesen, aber nichts sagen, er durfte, wenn sein Text kritisiert wurde, sich mit keinem Wort verteidigen. Darüber wachte streng der Chef der Gruppe: Hans Werner Richter. Er lud zu den Treffen ein und leitete sie. Richter war, wie alle in den Anfangsjahren, durch die Kriegserlebnisse geprägt und schrieb selbst eine reportage-artige Antikriegsprosa. Ihm zur Seite stand zunächst Alfred Andersch, der auch die Verbindung zum damals höchst wichtigen Rundfunk herstellte. Über den Rundfunk, darin besonders die Gattung Hörspiel, drang die Gruppe 47 allmählich ins Bewußtsein der Gesellschaft.

Sehr zum Ärger des damaligen Kultur-Establishments, das einen überaus konservativen, den Krieg und überhaupt alles Negative gänzlich ausblendenden Literaturbegriff propagierte: Rudolf Alexander Schröders Verse stellten hier noch den Gipfelpunkt zeitgenössischer Lyrik dar, Thomas Mann galt als Vaterlandsverräter und Brecht war als "Kommunist" ohnehin indiskutabel.

Thomas Mann war nie Mitglied der Gruppe 47, auch Gottfried Benn nicht, an dem viele sich orientierten, Brecht ebensowenig, der in Ostberlin sein eigenes Theater aufbaute. Aber weltanschaulich und künstlerisch war doch eine gewisse Nähe zu diesen Größen vorhanden. Das westdeutsche Feuilleton, das Brecht totschwieg und Thomas Mann beschimpfte, versuchte die Gruppe 47 zunächst zu ignorieren, um sie dann als "gefährlich links" zu attackieren. Schon die informelle Gruppenstruktur erschien höchst verdächtig: Es gab keine Mitgliedschaft, keine Satzung, die Gruppe war kein Verein, nicht mal eine feste Tagesordnung existierte. Die ersten Treffen fanden in abgelegenen Gasthöfen und Gewerkschaftsheimen statt, am Anfang hatte man kaum etwas zu essen, manche mussten auf dem Boden schlafen. Das alles änderte sich mit den Jahren. Bald sahen sich die Autoren bei den Tagungen fast in der Minderheit: Verleger, Literaturagenten und berufsmäßige Kritiker drängten herein. Richter hatte Mühe, den Charakter der Tagungen als informelle Treffen unter Autoren zu bewahren. Medienstars wie Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger sorgten für Rummel, die Treffen bekamen Event-Charakter - eine Entwicklung, die eher zurückgezogen agierenden Schriftstellern wie Wolfgang Hildesheimer oder auch Uwe Johnson gar nicht gefiel. Mit der Einladung Johnsons, der zunächst noch in Ostberlin wohnte, Hans Mayers und später Johannes Bobrowskis bekam die Gruppe auch etwas Gesamtdeutsches, zumindest in Ansätzen. Walter Höllerer, der als junger Autor zur Gruppe stieß, stieg bald zum großen Literaturvermittler auf, seine Veranstaltungen an der TU Berlin, auf denen er - inzwischen Professor - viele Gruppenmitglieder öffentlich lesen ließ, gerieten zu wahren Massenaufläufen. Literatur war äußerst populär in jenen Jahren, nicht zuletzt durch die Gruppe 47.

Jene Jahre, das waren die frühen und mittleren 60er Jahre, als auch das neue Fernsehen sich für die Literatur interessierte: Zur besten Sendezeit wurden damals, statt - wie heute - "Tatort", literarisch anspruchsvolle Fernsehspiele gezeigt. Dennoch läutete das Fernsehzeitalter auch das Ende der Gruppe 47 ein: "Fernsehmenschen" wie Marcel Reich-Ranicki, der bei den Treffen selbst nur eine Nebenrolle gespielt hatte und von den wirklich Gebildeten in der Gruppe wie Enzensberger, Joachim Kaiser, Hans Mayer oder auch Walter Jens rhetorisch und argumentativ weit in den Schatten gestellt wurde, gewannen mit TV-kompatiblen verkürzten Statements medial die Oberhand - der feinsinnige Diskurs hatte in der medialen Massengesellschaft keine Chance mehr. Als Letzter war es der junge Peter Handke, der 1966 in Princeton das Forum, das die Gruppe bot, instinksicher zur eigenen Publicity nutzte. Wie anders war es 15 Jahre zuvor Paul Celan ergangen, der, als er erstmals vor der Gruppe seine "Todesfuge" rezitierte, fast ausgelacht worden war: Nicht des Themas (das sich damals selbst in dieser Gruppe noch kaum jemandem erschloss!) oder der sprachlichen Bilder wegen, sondern aufgrund seiner als pathetisch empfundenen Vortragsweise (Richter: "Der liest ja wie Goebbels!").

Das Werkstattmodell selbst - der Austausch unter Autoren, gegenseitiges Vorlesen und Kritisieren mitsamt Preisvergabe aus der Mitte der anwesenden Autoren - ist bis heute lebendig, zum Beispiel im Irseer "Pegasus". Böttigers Buch bietet, trotz gelegentlicher Weitschweifigkeit, einen guten Überblick und lädt dazu ein, sich mit den Werken von Autoren wie Günter Eich, Uwe Johnson, Gisela Elsner, Peter Weiss wieder näher zu beschäftigen. Auch Martin Walser war langjährig aktives Mitglied der Gruppe. Aber der ist ja ohnehin jedem bekannt.


Helmut Böttiger: Die Gruppe 47: Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlags-Anstalt München 2012. 480 S. 24, 99 Euro.

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