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Helga M. Novak: Im Schwanenhals

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Jayne-Ann Igel


Ankünfte und Aufbrüche


Wie eine Reihe anderer Autorinnen und Autoren ihrer Generation der in den dreißiger Jahren Geborenen, etwa Brigitte Reimann, Helga Schütz oder der heute fast vergessene Ernst Jürgen Dreyer, der die Spaltung Deutschlands zugleich als innere Spaltung thematisierte, verknüpfte Helga M. Novak zunächst Hoffnungen mit dem neugegründeten „zweiten“ deutschen Staat, die Hoffnung auf Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben beispielsweise, auf Offenheit, Transparenz, Ferne von jeglicher Militanz. Hoffnungen, die bei den einen schneller, bei anderen langsamer erodierten und so manchen bewegten, das Land schon in den Fünfzigern zu verlassen.

Helga M. Novaks Text „Im Schwanenhals“, der nun nach „Die Eisheiligen“ (1979) und „Vogel federlos“ (1982) als dritter Teil ihrer Autobiographie erschienen ist, fokussiert den Blick insbesondere auf die zweite Hälfte der fünfziger und auf die sechziger Jahre, die in der DDR zum Teil noch von einer Vormundschaftlichkeit seitens staatlicher Einrichtungen und Behörden als auch der SED geprägt waren. Die Enthüllungen des XX. Parteitags der KPdSU und die Abrechnung mit Stalin bewirkten kaum Änderungen in der politischen Praxis, hierzulande tickte die Zeit anders. Getrieben von prinzipiellem Mißtrauen und einer in ihren Leitungsgremien tiefverwurzelten Prüderie griff die Einheitspartei zu jener Zeit selbst in das Privat- und Intimleben ihrer Mitgliederschaft ein. Helga M. Novak, die seit 1954 an der Fakultät für Journalistik in Leipzig studierte (dem sogen. Roten Kloster, von dem sie detaillierte Innen-ansichten liefert) und im Internat gleich neben der Fakultät lebte, sollte das am eigenen Leib erfahren.

Ein Besuch mit anderen Studenten bei einem Kommilitonen im „Männerhaus“ des Internats nach 22 Uhr, was als unsittlich bewertet wird, obgleich nicht einmal etwas „passiert“ ist, führt zur Ausweisung aus dem Internat und zu einer Kürzung des Stipendiums. Sie muß sich um eine private Unterkunft bemühen, dies ist überaus schwierig in der von den Zerstörungen des Krieges noch sehr geprägten Stadt.

In dieser Lage tritt die Staatssicherheit an sie heran, der auch nicht entgangen ist, daß Helga M. Novak z.B. freundschaftliche Kontakte zu isländischen Mitstudenten unterhält. Sie wird zu einem Gespräch in ein Zimmer der Fakultät geladen, das abgelegen und das sie vordem noch nie betreten hat, zu einem Kadergespräch, wie es zunächst heißt, doch dann stellt sich heraus, daß die beiden Herren, die sie dort erwarten, Mitarbeiter der Staatssicherheit sind – sie soll in ihrem Auftrag die isländischen Mitstudenten an der Fakultät ausforschen. Sie unterschreibt unter seelischem Druck eine Bereitschaftserklärung und weiß doch schon in diesem Augenblick, nichts dergleichen unternehmen zu wollen, erklärt sich nur Tage später gegenüber einem der isländischen Studenten, mit dem sie enger befreundet ist.

Wir erfahren in der Folge von einer Person, die ihre, oft wesentliche Einschnitte zeitigenden, Entscheidungen sehr impulsiv trifft, sich dabei von ihrem Gerechtigkeitssinn wie der Sensibilität für Einengungen leiten läßt, aufrichtig sich selbst und anderen gegenüber. Helga M. Novak ist hin- und hergerissen: einerseits gewillt, in diesem Lande ihren Platz zu finden, stößt sie sich andererseits an den ideologischen Prämissen, die nur wenig Raum lassen – eine Erfahrung, die sie mit so manchem Zeitgenossen teilt. Singulär hingegen ist, daß sie mehrfach die „Lager“ wechselt, und das mitten im Kalten Krieg ... Das erste Mal flüchtet sie mit ihrem isländischen Freund nach der öffentlichen Verkündung von Repressivmaßnahmen gegen sie und eine Mitstudentin nach Island, um sich in Sicherheit zu bringen; schon ein viertel Jahr später kehrt sie zurück, nach Ostberlin, wo Verwandte leben, weil sie ihre Leute braucht, und muttersprachliche Laute. Diese Rückkehr ist sehr riskant, denn sie gilt als Republikflüchtige, doch sie hat Glück, und dies im zeitlichen Umfeld der politischen Unruhen in Polen und Ungarn, der sogen. Harich-Affäre und der damit verbundenen Angst der Staatsoberen, es könnte auch in ihrem Land ein Petöfi-Klub seine Umtriebe entfalten. Schriftsteller wie Gerhard Zwerenz oder Uwe Johnson sollten mehr oder weniger im Nachgang dieser Ereignisse die DDR für immer verlassen. Zu diesem Zeitpunkt ist Helga M. Novak noch keine Schriftstellerin, aber wenig später entstehen erste Gedichte, sie beginnt während ihres zweiten Aufenthalts in Island, gelegentlich dessen sie mit einer Szene einheimischer Dichter in Berührung kommt, intensiver daran zu arbeiten. Sie veröffentlicht eine Sammlung eigener poetischer Texte, verkauft die Bände von der Hand an Interessierte, wie es zu jener Zeit in Island üblich – der selbstironisch gestimmte Bericht über den Besuch bei einem bekannten Kritiker läßt sich durchaus als Inaugurationserlebnis der Helga M. Novak als Autorin lesen. Wie der Schriftsteller Boris Djacenko ca. anderthalb Jahrzehnte vor ihr, auch er einer, der mit Hoffnungen und einem ersten Buch in der DDR zu bestehen versuchte, hält sich Novak während ihrer Island-Aufenthalte mit Saisonarbeiten beim Fischfang resp. in der Fischverarbeitung über Wasser, führt ein umtriebiges Leben, versucht Fuß zu fassen ...

Die Möglichkeit, einen bundesdeutschen Paß zu erhalten, schlägt sie aus, weil ihr auch das westliche Deutschland nicht als Alternative erscheint, mit seinem Durchsatz an Staatsbeamten aus der NS-Zeit; das macht sie zu einer wirklichen Exilierten, einer, die außerhalb ihres ererbten Sprachraums sich zu verwurzeln versucht. Diese mehrmaligen Wechsel wären mit dem Begriff „Flucht“ nur unzureichend charakterisiert, vielmehr handelte es sich dabei auch um Aufbrüche, das sich Einlassen auf Unbekanntes, Unvorhersehbares. Noch zweimal kehrt sie in die DDR zurück, ehe sie 1966 endgültig ausreist, nunmehr des Landes verwiesen, kurz nach der Exmatrikulation vom Literaturinstitut in Leipzig.

Aufschlußreich sind die in den Roman integrierten Dokumente, Tagebuchaufzeichnungen, Kommentare, MfS-Protokolle und Briefwechsel. Im besten Sinne eröffnen sie eine andere Perspektive auf das Erzählte. Auf die zuweilen seitenlang sich erstreckenden Zitate aus Briefwechseln mit ihrem vormaligen Lebensgefährten Wolfgang und der Studienkollegin Tonka trifft dies jedoch nur bedingt zu. Oft wirken die Auszüge langatmig und ermüdend, ohne „Mehrwert“ für den Fortgang der Erzählung und deren Intensität, Gehalt – Das mag beabsichtigt sein, die Ambivalenz ihrer Situation, öfters auf sich allein gestellt, zu verdeutlichen, das Dilemma, in dem die Autorin letztendlich steckte, in Island und auch in Berlin. Doch vertraue ich auch hier lieber der erzählerischen Intensität Novaks, die spannend und in einer Unmittelbarkeit zu erzählen vermag, als lägen die Ereignisse nicht schon ein halbes Jahrhundert zurück.

Die 70er Jahre und die Zeit bis in die Gegenwart läßt die Autorin in raschem Tempo Revue passieren, wir können den weiteren Entwicklungen nurmehr punktuell folgen. An einer Stelle, wir befinden uns schon in der Nachwendezeit, reflektiert Helga M. Novak rückblickend ihre „zwei großen fürchterlichen Ängste“: Die eine war die vor dem Meer, die war bald überwunden. Die andere war die vor dem „kapitalistischen Ausland“, obgleich es mich immer in diese Gegenden zog. [...] Als ich das erste Mal in New York war, damals mit der Gruppe 47, stand ich permanent an meinem Hotelzimmerfenster im 32. Stock und wollte nichts anderes als runterspringen. Jahre später war ich ganz allein in Chicago. Ich hatte den Westen in mir und für mich ganz privat besiegt (S. 322). Die Versuche nach 1989, im geeinten Deutschland wieder eingebürgert zu werden, sollten scheitern; bis heute verweigern ihr die Behörden einen deutschen Paß.


Dresden, den 04. November 2013


Helga M. Novak: Im Schwanenhals. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2013. 352 Seiten. 21,95 Euro.

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