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Heinz-Albert Heindrichs: Heimsucht Fernweh

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Timo Brandt

„aber wie ferne ist gestern/ wie kurz wird/ morgen“


Dieser Lyrikband mit den beiden Kapiteln „Heimsucht“ und „Fernweh“ ist bereits der neunzehnte Band der Reihe „Gesammelte Gedichte“ des 1930 geborenen Heinz-Albert Heindrichs (alle Bände sind seit 2008 im Rimbaud Verlag erschienen). Nach der Lektüre einiger Netzartikel und Interviews wird schnell ersichtlich, dass Heindrichs‘ bisheriges Werk bereits eine große Palette an Themen und Spielarten abdeckt, die das Adjektiv „vielseitig“ (im zweifachen Sinne) verdient hat.

Der neue Band tritt sprachlich mit vollendeter Schlichtheit auf. Thematisch weisen die Gedichte sich eindeutig als Alterswerke aus: es geht um die kleinen Freuden, die es noch gibt, die Nähe und Gewissheit des Endes, die Sorge um die Nachwelt, sowie den langen Blick zurück auf einen Weg, dessen Summe nun schon fast feststeht.

„erst
rückblickend
begreift man den Sinn
einer labyrinthischen Spur
und muss versuchen
ihr weiter zu
folgen“

Besonders in den ersten fünfundfünfzig Gedichten des Abschnitts „Heimsucht“ steht das Alter im Mittelpunkt. Das gleichsam Freundliche und Beängstigende dieser Lebenszeit wird eindrücklich hervorgehoben; denn alles wird einem entzogen, und doch wird einem alles wie ein Geschenk gereicht.

Heindrichs zeichnet mit einer einfachen, völlig unverstellten – in einigen wenigen Fällen fast schon apathisch wirkenden – Sprache Bilder dieser Erfahrung zwischen Bangen und Freude nach, in der jedes Werden das eigene Vergehen andeutet, aber auch jedes Glück ein Aufschub ist. Ein Gedicht bspw. beginnt mit strahlendem Sonnenschein nach einer verschneiten Nacht:

„doch
die Amsel
traut sich noch nicht zu singen
hat sie den Wetterbericht
etwa von gestern
gehört
oder spürt sie
dass nun Stürme angesagt sind

ich alter Mann aber freu mich
einfach in der Sonne
zu sitzen“

Natürlich ist Heindrichs auch die Amsel, in die er einen Teil seiner Empfindungen hineinprojiziert und so ein gelungenes Bild für die beiden Seiten des Erlebens erschafft, die in ein und derselben Brust sitzen, Bedenken und Frohsinn immer wieder gegeneinander ausspielen. Er zeigt, wie das Eine das jeweils Andere überwiegen kann, sich darüber erhebt – in beide Richtungen (siehe unten: die Ausführungen zu dem Gedicht „Rosen“)

Ich muss zugeben, dass mich die schlichte Art dieser Gedichte berührt. Ihre bescheidene Nachdrücklichkeit, ihr Mut zur Einfachheit. Und es gelingt ihnen, sehr komplexe Innenwelten und Zwiste, tiefreichende Empfindungsstränge, letztlich die waghalsige Balance der menschlichen Befindlichkeit, auf sehr kleinen Raum und mit wenigen Worten einzufangen.

In einem Gedicht beobachtet das lyrische Ich das Welken der Bäume, wie ihre Blätter abfallen, und am Ende stellt es fest:

„[ich] beneide dass sie
wieder grünen
dürfen“

In einem anderen Text liefert Heindrichs ein wunderbares Bild für die Verschiebung in der Wahrnehmung, der sich mit dem Alter ergibt. In „Rosen“ wird zu Anfang beschrieben, wie sehr das lyrische Ich sich früher über Rosen freute, wie ihr Blühen für alles Lebendige, Glückzuweisende stand.

„seit ich alt bin
ergreift mich ihr Welken
mir ist als schreien
sie um Hilfe
und meine Augen spüren
die wehrlosen Dornen“

Auch in diesem Gedicht wird natürlich anhand eines vermeintlichen Unterschieds wiederum die Dualität der Seele abgebildet, in der Erkennen und Empfinden sich gegenseitig bedingen, aufheben, widersprechen. Das Gedicht spricht von Sehnsucht und von Einsicht, die sich gegenüberstehen und doch nebeneinander agieren.

Weil Menschen sich erinnern, ist das Früher auch das Jetzt – und doch nicht. Die Sehnsucht versucht, aus dem Früher ein Jetzt zu machen, aber vielleicht macht sie auch aus dem Früher bloß ein vermeintlich besseres, klareres Jetzt. Diese Dilemmata fassen Heindrichs‘ Gedichte meisterhaft ein.

„sie suchen vor allem
nach Parolen
mit denen sie hoffen
die nächsten Wahlen zu gewinnen“

„Fernweh“, der zweite Teil des Buches, ist wesentlich einförmiger, zumindest im Vergleich. Hier geht es vor allem um die Sorge, was aus der Welt geworden ist, was aus ihr werden kann. Weltgeschehen, meist kein konkretes, wird in Frage gestellt, es wird gezweifelt und gehadert, selten auch, leise und unterschwellig, gefordert.

Auch in diesen Gedichten bringt Heindrichs manches gut auf den Punkt, er verfällt nicht in Tiraden oder wagt sich zu weit in eine Anklage hinein (vielleicht dann und wann zu weit in eine Klage). Doch trotzdem ist dieses zweite Kapitel nach einer Weile ein wenig ermüdend. Es gelingt vielen Texten nicht, ganz für sich zu stehen (was vielleicht gar nicht an ihrem individuellen Aufbau, sondern an der Ballung liegt, der Aufeinanderfolge).

„wer hilft
mir vom denken ins glauben“

Glauben ist ein wichtiger Aspekt, der in diesen zweiten fünfundfünfzig Gedichten oft aufgeworfen wird. Kann man noch hoffen? Wurde schon zu viel angerichtet? Wie soll es noch besser werden? Heindrichs nähert sich dieser Frage manchmal so behutsam wie in „Heimsucht“, manchmal stürzt er sich aber auch ein bisschen auf sie.

Als Ganzes bleibt der Band ein beeindruckendes Zeugnis. Seine Schlichtheit weiß, vor allem in „Heimsucht“, zu überzeugen und macht das Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre. In den besten Momenten weisen die Gedichte mit einfachen Mitteln auf die Dialektik menschlichen Wesens hin. So zum Beispiel auch in einem Text, in dem das lyrische Ich einen alten Affen im Zoo sieht, die beiden sich anschauen und:

„jetzt
winkt er mir
aber ich schäme mich

dass uns die Gitter trennen“


Heinz-Albert Heindrichs: Heimsucht Fernweh. (Gesammelte Gedichte Bd. 19) Aachen (Rimbaud Verlag) 2018. 130 Seiten. 20,00 Euro.
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