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Hakan Tezkan: Scheusal

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Hakan Tezkan


SCHEUSAL

Vor dem Bett lag ein Rechteck fahlen Lichts. Die Pflanze, die M den Eltern geschenkt hatte, warf vom Fenstersims aus ihre Schatten hinein. Sowohl der Vater als auch die Mutter lagen auf dem Rücken, nebeneinander, in je eine Decke gehüllt, die sie unter ihre Körper geklemmt hatten. Auf den Decken ruhten ihre Hände, gefaltet, die des Vaters starr, indes der Daumen der Mutter sich kaum merklich abwechselnd krümmte und löste, krümmte und löste. Die Gesichter der Eltern sahen bleich aus in dem Licht, nur ihre Falten traten dunkel hervor. M zählte sie, achtzehn.
    Die Haare der Mutter lagen versteckt unter einer Schlafhaube. Ihre Stirn war bloß, das rote Scheusal, wie sie den Fleck nannte, gut zu erkennen, auch jene Narbe am Haar- ansatz. Die Stelle fühlte sich glatt an, fast künstlich. Als M die Hand wieder wegzog, warf die Mutter sich gleich zur Seite, etwas murmelnd, und krallte sich in der Matratze fest.
  Die Decke war ihr bis zur Hüfte heruntergerutscht, das Nachthemd sah jetzt hervor. Es war bis oben zugeknöpft. Am Hals klemmte der Kragen ein Stück Haut ein. Über die Mutter gebeugt, zog M die Decke wieder hoch bis unters Kinn. Dann ging er um das Bett herum auf die Seite des Vaters. Dessen Mund stand offen.
   Die Zähne lagen verborgen im Dunkel. Der Vater schnarchte, es klang, als verschlucke er seine Zunge dabei. In seinem Rücken, hinter der Pflanze, die an einigen Stellen bereits verwelkte, hing der Mond, und M ging darauf zu und presste seine Stirn gegen das Fensterglas. Über eines der vertrockneten Blätter der Pflanze streichend, wünschte er sich den Mund des Vaters mit ihrer Erde zu füllen, immer weiter ihn mit Erde zu füllen, bis eine neue Pflanze daraus wüchse.

Er trat wieder ein paar Schritte zurück, so leise wie möglich, noch einmal die Eltern zu betrachten, die nun abermals starr dalagen, die Mutter seitlich, der Vater weiterhin auf dem Rücken. Für einen Moment hielt er den Arm über das Gesicht des Vaters. Er spürte den warmen Atem auf der Haut. Er ließ den Arm wieder fallen und legte sich ins Licht am Fußende des Bettes. Er zog die Beine ein. In seiner Faust regte sich ein Regenwurm.


Aus: Hakan Tezkan: Den Kern schluckt man nicht. Roman. Nettetal (Elif Verlag) 2018. 132 Seiten. 12,00 Euro.
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