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Gonca Özmen: Vielleicht lautlos

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Gerrit Wustmann

Der abgeschnittene Arm eines Kindes

Die Gedichte der türkischen Lyrikerin Gonca Özmen



Nur wenig türkische Literatur wird ins Deutsche übersetzt. Sieht man ab von der Türkischen Bibliothek im Unionsverlag und dem Programm von binooki, so sind es jedes Jahr nur eine Handvoll neuer Bücher – selbst jetzt, wo die Türkei Dauerthema im medialen Aufmerksam-keitsfeuer ist. Wie Stefan Weidner einmal sagte: „Die Deutschen machen Urlaub in der Türkei, interessieren sich aber nicht für türkische Literatur.“ Ein Dilemma.

Dass unter dem Wenigen umso weniger Lyrik ist, muss kaum erwähnt werden. Gerade mal zwei große Anthologien gibt es bislang, die von Erika Glassen und Turgay Fisekci herausgegebenen „Kultgedichte“ und die von Yüksel Pazarkaya edierte Sammlung „Die Wasser sind weiser als wir“; antiquarisch findet man bisweilen noch den Band „Aus dem goldenen Becher“ (Hrsg. Annemarie Schimmel). Alle drei sind empfehlenswert für jene, die einen Einstieg in die Lyrik der Türkei suchen.

Obwohl in keinem europäischen Land weniger gelesen wird als in der Türkei, findet man dort doch in nahezu jedem Buchladen ein gut sortiertes Lyrikregal. In Deutschland suchen wir danach meist vergeblich. Ebenso wie nach Einzeltiteln türkischer Dichterinnen und Dichter in deutscher Übersetzung. Der kleine Elif Verlag sticht in den letzten Jahren mit seinem Engagement heraus: Dort sind Bände von Lale Müldür, Ataol Behramoglu, Ilhan Berk und Hilmi Yavuz erschienen. Nun gesellt sich die 1982 geborene Gonca Özmen mit ihren verschlüsselten, metaphernreichen Liebesgedichten dazu.


„Vielleicht lautlos“ heißt der Band, und es ist, nach verstreuten Anthologiebeiträgen, das erste Mal, dass ein ganzes Buch von ihr auf Deutsch erscheint, übertragen von Monika Carbe, die als Übersetzerin u. a. auch an der Türkischen Bibliothek mitgearbeitet hat. Vor ihrer Leistung muss man sich verneigen. Denn während die Lyriküber-setzung generell eine hochanspruchsvolle Aufgabe ist, so dürften Özmens komplexe Sprachbilder des Öfteren nah an der Unübersetzbarkeit sein. Umso überraschender, wie stimmig und eindrucksvoll die deutsche Fassung daherkommt:


Diesmal fließen vielleicht die Worte, sage ich,
mit dem Regen trennt sich der Wunsch der Haut.

Vielleicht verwirren Gebetsrufe und Tode deine Zeit,
wie auch immer, die Blüte sprießt aus
dem abgeschnittenen Arm eines Kindes.


Es sind verstörende, beunruhigende Assoziationen, die Gonca Özmens Verse im Leser wecken. Fast sanft, liebevoll nimmt sie uns an die Hand, nur um uns dann unvermittelt in einen düsteren Brunnen zu schubsen. Sie verzerrt die Realität zu Traumbildern von jener Art, die einen den ganzen Tag lang verfolgen, mit spitzen, scharfen Kanten und mit glatten Flächen, auf denen kein Halt zu finden ist. Was sie dabei leitmotivisch immer wieder verknüpft: Die Hände, die sowohl lieben als auch töten können, die mal heilend sind, mal barbarisch. Die Stärke liegt darin, dass nichts eindeutig ist, sich oft dem Verstehen bewusst entzieht und stattdessen emotionale Anknüpfung sucht. Das macht diese Texte umso beunruhigender.

Worauf spielt sie an, wenn sie vom „abgeschnittenen Arm eines Kindes“ schreibt? Man mag unvermittelt an die Massaker der türkischen Armee im Südosten des Landes denken, auch an die allgegenwärtige Gewalt gegen Minderheiten. Nur „vielleicht“ fließen die Worte. Wie ein Gebetsruf? Oder ein Totengebet? Ist die Blüte ein Hoffnungsschimmer? Es bietet sich an, diesen offensichtlichen Interpretationen zu folgen, doch dann stößt man auf ein Gedicht wie das folgende und wirft jede Sicherheit wieder über Bord:

DER ALTE ARGWOHN

Einen Regen am Morgen rieseln lassen,
jetzt einen Regen auf deinen traurigen Nacken.

Wir waren die Stimmen,
denen die Flüsse zuhörten.

Durch uns hindurch zogen die Wasser,
durch uns hindurch Schweigen und Dämmern.

Wir blickten auf, unser Schmerz ein Vorhang,
wir schlossen ihn.


Wälder und Flüsse und kaum greifbare Worte, Dunkelheit ziehen durch Gonca Özmens Gedichte. Man wartet zwangsläufig auf Licht, auf ein Zeichen von Licht, eine Andeutung – und findet sie immer dort, wo ganz leise eine fragile Erotik angestimmt wird, die sich zu behaupten versucht gegen den unbegreiflichen Irrsinn des Lebens. Das Grauen ist immer von Dauer, das Licht vergänglich und unbeständig.

„Vielleicht lautlos“ gibt einen guten ersten Eindruck in das Werk einer Dichterin, die bereits viele Wandlungen durchgemacht und sich als unverkennbare und markante Stimme der jungen türkischen Lyrik etabliert hat. Sie schrieb schon als Kind, im Alter von gerade mal 15 Jahren folgten die ersten Veröffentlichungen; noch bevor im Jahr 2000 ihr Debütband erschien, erhielt sie 1999 den Ali Riza Ertan Poesiepreis, und es folgten viele weitere. Auch ihr erstes Buch wurde umgehend preisgekrönt, ihre Verse in zahlreiche Sprachen übersetzt. Dass wir ihrer Stimme nun auch auf Deutsch lauschen können – es war längst überfällig!



Gonca Özmen: Vielleicht lautlos. Gedichte. Übersetzt von Monika Carbe. Nettetal (Élif Verlag) 2017. 140 Seiten. 15,00 Euro.

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