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Gespräch mit Odile Kennel

Dialoge



Der Raum dazwischen

JK: Liebe Odile, zunächst würde ich mich gern über Vielsprachigkeit mit Dir unterhalten, und über Einflüsse.
Du sprichst so ziemlich alle romanischen Sprachen, die ich kenne, und übersetzt aus einigen davon ins Deutsche. Schreibst du deine eigenen Sachen deutsch, oder benutzt du auch andere Sprachen?

OK: Lieber Jan, da fängst du ja gleich mit den ganz großen Fragen an. An die ich mich selbst erst allmählich heranwage und schon gar keine abschließenden Antworten habe. Die unterschiedlichen Sprachen haben ja einen ganz unterschiedlichen Stellenwert in meiner Geschichte. Ich habe zuerst Französisch gesprochen und gelesen, aber in der Schule deutsch schreiben gelernt, weshalb Französisch meine Muttersprache, Deutsch meine Zweit- und Schreibsprache ist. Letzteres wäre sie nicht geblieben, wenn ich nach Frankreich gezogen wäre. Egal wo ich war, hat sich die Umgebungs- (Alltags-, die von mir benutzte) Sprache bald in meinem Schreiben breit gemacht. In einer Sprache zu leben und einer anderen zu schreiben, ist für mich ein schwer einzuhaltender Spagat. Das heißt, es gibt vereinzelt Gedichtversuche auf Englisch und Portugiesisch (weil ich in Ländern dieser Sprache eine Weile gelebt habe), aber die habe ich nie ernst genommen (dafür war ich wiederum nicht lange genug da). Eine Sprache (inklusive der Muttersprache) gut zu sprechen, heißt ja nicht, dass man in ihr Literatur verfassen kann. Das muss (müsste) man in jeder Sprache neu lernen.
Französisch und Deutsch habe ich in meinem Leben lange sorgfältig von einander getrennt (das erste deutsche Buch in Frankreich gelesen habe ich erst 2010!). In meinen Notizbüchern finden sich manchmal französische Passagen, je nachdem, wo und über was ich schreibe. In meiner Prosa gibt es fast immer Protagonistinnen, die mehrsprachig sind und sich damit auseinandersetzen (Meine Erzählung "Wimpernflug", von 2000 und jetzt vergriffen, macht das zum zentralen Thema). Es gibt immer wieder Wendungen, die mir erst auf Französisch einfallen (weil sie genauer ausdrücken, was mir vorschwebt), so dass ich mich gewissermaßen in meinen eigenen Texten selbst übersetze. Interessanterweise habe ich bei der Lyrik am längsten, bis vor kurzem, diese Undurchlässigkeit zwischen den Sprachen aufrechterhalten. Ich bin mir nicht sicher, warum das so war, ich glaube, es ist eine Schutzgeste, mich (gerade in Gedichten) nicht verletzlich, angreifbar machen, diese französische, vielleicht empfindlichere Seite "unter Verschluss" halten zu wollen; zu kontrollieren, wer sie zu lesen/hören bekommt. Mir fällt dazu meine Mutter ein, die in ihren ersten Jahren in der Bundesrepublik nur in Supermärkten einkaufen ging (die Anfang der 60er noch selten waren), nur damit sie nicht Deutsch sprechen musste und als Ausländerin auffiel. Und dann habe ich neulich mein erstes Kinderbuch aus dem Französischen übersetzt: Obwohl es genau das war, was ich in der Übersetzung liebe, sprachverspielt und witzig, habe ich ganz schön gekämpft, um einen deutschen Kinderbuchton zu finden. Der ist mir fremd, ich betrachte ihn von außen. Kinderbücher würde ich also auf Französisch schreiben (bisher beschränkt sich das auf Kindergedichte für meine Neffen, oder mal eine kurze Geschichte).
Aber Zweisprachigkeit ist ja keine Frage der Mathematik. Es gibt kein 1+1. Der luxemburgische Dichter Jean Portante, Sohn italienischer Einwanderer, der auf Französisch schreibt, benutzt das Bild des Walfischs: Ein Fisch, der eine Lunge hat, ein Meereswesen, das die Erinnerung an sein Land-Dasein noch in sich trägt. Die Lunge steht für die andere Sprache, die immer im Hintergrund mitschreibt. Damit kann ich viel anfangen, aber das lässt sich natürlich nicht so wirklich aufdröseln, welchen Einfluss die eine auf die andere Sprache hat. Vielleicht fasziniert mich das Übersetzen deshalb so sehr: Weil übersetzen weder die eine, noch die andere Sprache ist, sondern der Raum dazwischen, und der ist mir vertraut. Wenn man in mehreren Sprachen aufgewachsen ist, weiß man ja gar nicht, wie es ist, in einer Sprache aufgewachsen zu sein. Das ist komplett unvorstellbar.

JK: Kann man sagen, dass aufgrund der Mehrsprachigkeit, auch hinsichtlich des zwischen den Sprachen Vermittelns, auf jeder Seite ein Rest Fremdheit fortbesteht, und dieser Rest so etwas wie ein lyrisches Potential darstellt? Ich sehe in deinen Gedichten eben auch eine Weise der Erschließung, gerade dort wo sie sich einer flüchtigen Landschaft zuwenden.

OK: Ja, besser könnte ich das auch nicht ausdrücken ... Wobei ich denke, dass lyrisches Potential immer im „Dazwischen“ liegt, in einer gewissen Fremdheit der benutzten Sprache gegenüber, in meinem Fall der Mutter-/Vatersprache gegenüber, also in zwei Richtungen (mit dem Dialekt als Drittsprache fangen wir erst gar nicht an)? Den zweiten Teil deiner Frage habe ich nicht verstanden. Du meinst, eine solche Weise der Erschließung? Kannst du das näher benennen?

JK: Eine Entfremdung im Wortsinne sozusagen, als könne man die Fremdheit wegdichten. Überhaupt scheinst du Fremdes, auch Bedrohliches bändigen zu wollen, in dem du es bedichtest.


Wir reden vom Sterben als wär´s
ein Stück Brot, wir reden und reden
und meinen den Baum vor dem Fenster


Und andererseits inhalierst du die Umgebung. Fenster sind wichtig in deinen Gedichten, als würdest du eben durch die Fenster eine Verbindung zur Umgebung herstellen, sie zu deiner machen. Das meine ich mit Erschließung.

OK: Ich habe zum Bändigen ja nur die Sprache (und das ist nicht wenig). Auch zum Bändigen der Fülle, der Sinneseindrücke, naja, platt gesagt, der Welt an und für sich. Aber tun das nicht alle, die schreiben? Das mit den Fenstern war mir so nicht aufgefallen, bevor du es erwähnt hast. Ich hätte gesagt, mein „Interieur“, was in Form meiner Küche zum Beispiel immer wieder vorkommt, und in dem mein Alltag stattfindet, hat eine große Bedeutung. Aber du hast natürlich Recht, das Fenster dazu ist der „Durchblick“ von der sicheren Warte aus … Da fällt mir gleich ein portugiesisches Lied ein: Menina estàs à janela com o teu cabelo à lua …  (mir fällt zu fast allem eine Liedstrophe ein)

(einmal von Vitorino, und die Rockversion von Xutas & Pontapés und diese nur für dich, weil du Portugal kennst, unglaublich, diese Menge schwarzgekleideter Männer und so viel „ternura“ im Gesang …)

JK: Und die bauchigen Mandolinen portugiesischer Bauart. Merkwürdig, wie sich in diesem Lied Volksmusik und Rock versöhnen. Und in deinem Gedicht die Kontaktaufnahme zum Vogel durchs Küchenfenster. Überhaupt Tiere. Ihr Auftauchen in verschiedenen Konstellationen. Was bedeuten dir Tiere?

OK: Sind es nicht meist Vögel, die bei mir auftauchen? Außer natürlich in den expliziten Tiergedichten. Aber auch da kommen der Waldrapp und das Auerhuhn vor. Hab ich eigentlich schon über Insekten geschrieben? Warum eigentlich nicht? Über Kreuzspinnen könnte ich schreiben. Zu denen habe ich ein Verhältnis aufgebaut, als ich einen Rosmarin vor dem Küchenfenster(!) zu stehen hatte und dort regelmäßig eine ihr Netz baute. Der Eichelhäher bewohnte ein Jahr lang den Baum vor meiner Küche. Es gibt ein Taubenpaar, was in selbigem Baum ganz rührend Seite an Seite mit den Hühnern schlafen geht, nämlich um 19 Uhr, auch im Sommer, wenn es noch hell ist. Also, das sind die Tiere, die meinen Alltag bevölkern, so etwas wie Nachbarn, und da entwickelt man eine Beziehung. Und dann gibt es Vögel wie Mauersegler, Meisen, Feldlerche, Möwen, Amsel, Nachtigall, die für ihren Gesang (ihre Schreie) stehen oder für ihr „saisonales Eingebundensein“ und mit bestimmten Momenten meines Lebens und den dazugehörigen Gefühlslagen verbandelt sind. Und nicht zuletzt steckt in mir eine anonyme Animistin (die ununterbrochen mit der ebenfalls innewohnenden Rationalistin ringt).

JK: Im oben zuerst zitierten Gedicht klingen Celan und Brecht an. Kann das sein oder überinterpretiere ich? Gibt es Vorbilder oder Bezugsgrößen?

OK: Ich finde es schwer, ab einem bestimmten (Schreib-)Alter von Vorbildern zu sprechen. Vorbildern versucht man ja zu entsprechen, und der Prozess ist ja eher so, dass man sich im Laufe der Zeit „abnabelt“ (oder es versucht). Aber klar schreibt man immer alles mit, was man gelesen hat und einen beeindruckt hat … Dazu gehören auch Celan und Brecht, und wenn ich an meine Kindheit denke, auch Morgenstern, Prévert, Desnos, aber wenn ich überlege, bei wem ich immer wieder lande, wen ich nie müde werde zu lesen, dann ist das Pessoa und einige seiner Hetero- oder Teilheteronyme. Ich war einundzwanzig, als mir Álvaro de Campos begegnet ist, ich war in Lissabon und habe mich in die Stadt, in den Dichter, und natürlich auch sonst verliebt, wie das eben so ist. Und ich glaube, das Alter spielt hier schon eine Rolle, weil man sich auf eine haltlose Art begeistern kann, die man später nicht mehr hat, nicht so oft jedenfalls (das wäre wahrscheinlich nicht auszuhalten). Oder man ist nicht mehr so durchlässig, auch was stilistische Beeinflussung angeht. Jedenfalls kam dann kurz darauf noch Alberto Caeiro dazu und schließlich Bernardo Soares. Im Buch der Unruhe finde ich immer noch Sätze, die mir Herzklopfen verursachen. Im Nachhinein denke ich, es ist kein Zufall, da habe ich mir einen gesucht, der weder auf deutsch, noch auf französisch schreibt. Und der eine ganze Palette zwischen Melancholie und Humor, zwischen expressionistischem Drang und Rationalität abdeckt. Womit wir wieder beim „Dazwischen“ wären.

JK: Vielleicht sieht man (oder sehe ich), was man selbst im Kopf hat, und der Baum war für mich ein Signal, aber wenn du Pessoa sagst, bin ich dabei, auch wenn er weit jenseits von Celan und Brecht liegt. Du hast Pessoa auf Portugiesisch gelesen? Ich war leider auf die Übersetzung angewiesen.
Naja, aber Hilfsbuchhalter Soares hat mich ohnehin ein wenig auf Abstand gehalten, vielleicht weil er es wollte. (Unter NR. 211 heißt es: Begeisterung ist geschmacklos. Begeisterung äußern heißt vor allem, unser Recht auf Unaufrichtigkeit verletzen. ...) Dennoch erlag ich der Faszination für das Buch. Kannst du dir die Faszination erklären, bzw. was löste die Lektüre in dir aus?

OK: Jeder Satz im Buch löst eine Gedankenkette aus, und ich finde das Buch im Übrigen nicht deprimierend (es heißt ja oft, es sei so). Da ist neben der Verzweiflung auch Selbstironie und Sprachspiel: cheguei a Lisboa, mas não a uma conclusão. (Wie ist das denn auf Deutsch übersetzt, täte mich interessieren. Aber ich kann dir erst sagen, wo das steht, wenn ich zurück in Berlin bin, irgendwo am Anfang, glaub ich). Mir kommt es immer vor, als hätte er alle Fragen des Lebens aufgeworfen, auf kleinstem Raum und im Konzentrat. Und ich will diese Sätze immer laut vor mich hinsagen und groß an die Wand schreiben. O crochê das coisas … da kommt mein crochê im Regen her … Dabei bin ich ja eigentlich für Aphorismen und ähnliches so gar nicht zu haben …

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