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Fundstücke

Poetik / Philosophie
Furchtbar ist es, wenn ein Mensch in der Masse aufschreit und man hört ihn nicht - die Masse schreit selber. Furchtbarer noch, wenn ein Mensch in der Leere aufschreit, man hört ihn nicht, weil einfach der Raum leer ist, ein Vakuum. Weil einfach keine Luft da ist.
Boris Eichenbaum:
Der Augenblick der Besinnung
1921 (in "Die Erweckung des Wortes" - Philipp Reclam jun. Leipzig, 1987)
24.03.2024
Wir werden feststellen, daß die sogenannte sensualistische Schreibweise (bei der man alles riechen, schmecken, fühlen kann) nicht ohne weiteres mit der realistischen Schreibweise zu identifizieren ist, sondern wir werden anerkennen, daß es sen-sualistisch geschriebene Werke gibt, die nicht realistisch, und realistische Werke, die nicht sensualistisch geschrieben sind. Wir werden sorgfältig untersuchen müssen, ob wir die Fabel wirklich am besten führen, wenn wir als Endeffekt die seelische Exposition der Personen anstreben.
Bertolt Brecht:
Volkstümlichkeit und Realismus,
1938 - Erstveröffentlichung 1958 in "Sinn und Form" (Heft 4)




17.03.2024
Flucht, oh Flucht! Oh Nacht, die Stunde der Dichtung. Denn Dichtung ist schauendes Warten im Zwielicht,
Dichtung ist dämmerahnender Abgrund, ist Warten an der Schwelle, ist Gemeinschaft und Einsamkeit zugleich,
ist Vermischung und Angst vor der Vermischung, unzuchtsfrei in der Vermischung, so unzuchtsfrei wie der Traum
der schlafenden Herde und doch Angst vor solcher Unzucht: oh, Dichtung ist Warten, noch nicht Aufbruch,
aber immerwährender Abschied.
Hermann Broch:
Der Tod des Vergil
Suhrkamp,  Seite 63/64) 1945





10.03.2024
Gott aber ist größer als unser Herz - und während es sich in Furcht und Schrecken vor der Weite des Raumes zusammen-zieht, der über Millionen Meilen hinweg die Fixsterne in dem großen Bären oder dem kalten Orion zu einem menschlichen Namen vereinigt, der als Bild in das Auge zurückkehrt, das ihn schaudernd entlassen hatte, nimmt er gleichzeitig die Vereinze-lung fort, unter der es sich wie ein welkes Blatt bei dem Gedanken an die Myriaden verlorengegangener Seufzer krümmt und unter dem Gluthauch der Ohnmacht, sie in sich zu sammeln, vergeht.
Elisabeth Langgässer:
Das unauslöschliche Siegel
(Zweites Buch, S. 233) 1946






03.03.2024
Was ist ein Adjektiv? Substantive sind die Namensgeber der Welt. Verben bringen die Namen in Bewegung. Adjektive kommen von woanders. Das Wort Adjektiv (auf Griechisch Epitheton) ist selbst ein Adjektiv und bedeutet "hinzugefügt", "ergänzt", "addiert", "eingeführt", fremd". Adjektive wirken wie recht unschuldige Ergänzungen, aber sehen wir sie uns genauer an. Die kleinen importierten Mechanismen haben die Aufgabe, alles auf der Welt mit dem Platz zu verklammern, der seiner Eigenheit entspricht. Sie sind die Spannbügel des Seins.
Anne Carson:
Die Autobiographie von Rot
(Kap. "Fleisch, noch rot: Was wurde mit Stesichoros anders?" Übersetzt von Anja Utler. S. Fischer 2019 (1998))



25.02.2024
Was nicht bemerkt wird, spreche ich beim Lesen vor mich hin, und: hunderte Mikro-Ereignisse, die alle gleichzeitig ablaufen. Also muß es doch jemanden geben, höre ich mich weiter-sprechen, der sozusagen extraordinär aufmerksam ist, um regis-trieren zu können, was unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des "im Allgemeinen" Bemerkbaren liegt. Zugleich muß er aus den zahllosen gleichzeitig ablaufenden Mikro-Ereignissen, eben weil er sie nicht alle gleichzeitig erfassen kann, auswählen.
Nico Bleutge:
Der Verstand
("Drei Plätze, 3" - in "Drei Fliegen. Über Gedichte". Beck Verlag 2020)



18.02.2024
Ich mache die Wörter nicht lebendig. Ich bekomme sie lebendig. Beim Wiederlesen in den Gedicht gewordenen Notaten spürte ich einmal: Sie sind so gegenwärtig.
Elke Erb:
Portrait: Elke Erb - Die irdische Seele
(in Signaturen, 2014)
11.02.2024
     "Es gibt eine Demarkationslinie, eine Grenze zwischen denen, die Bücher machen, und denen, die Bücher lesen. Ich möchte bei denen bleiben, die lesen, und deshalb passe ich auf, daß ich die Grenze nicht überschreite. Sonst wär's bald vorbei mit dem unvoreingenommenen Lesevergnügen, oder jedenfalls würde es sich in etwas anderes verwandeln, und das wäre nicht das, was ich will. Ich muß sehr genau aufpassen, denn die Grenzlinie ist nur ungefährt zu erkennen und hat die Tendenz, immer mehr zu verlöschen: Die Welt derjenigen, die beruflich mit Büchern zu tun haben, bevölkert sich immer dichter und neigt dazu, sich mit der Welt der Leser gleichzusetzen. Gewiß werden auch die Leser immer zahlreicher, aber mir scheint, daß die Zahl der Leute, die Bücher benutzen, um daraus andere Bücher zu machen, schneller wächst als die Zahl der Leute, die Bücher einfach nur gerne lesen. Und ich weiß, daß ich, wenn ich diese Demarkationslinie überschreiten würde, auch nur gele-gentlich oder aus Versehen, in Gefahr käme, mich von dieser vorwärtsdrängenden Flut mitreißen zu lassen. Deshalb weigere ich mich, meinen Fuß in ein Verlagshaus zu setzen, auch nur für ein paar Minuten."  
        "Und was ist mit mir?"
Italo Calvino:
Wenn ein Reisender in einer Winter-nacht
(aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, 2004/2012)
Foto: Johan Brun














04.02.2024
Mit Inbegriffen des politischen Gedichts, die auf bekannte Muster zurückgreifen, kommt man also nicht weit, will man herausfinden, welche Perspektiven es bietet. Man muss eine Stufe tiefer ansetzen. Da fällt auf, dass die Verfechter des poli-tischen Gedichts diesem oft wie selbst­verständ­lich hohe Zu­gäng­lichkeit ab­fordern, wahr­scheinlich aus der Intuition, dass Wirksamkeit Allgemein­verständ­lich­keit einschlösse. Ja, oft hat man das Gefühl, dass die Forderung nach dem poli­tischen Gedicht nur ein Trojanisches Pferd sein soll, endlich das „verständliche“ Gedicht wieder einzuführen.
Bertram Reinecke:
Das Minenfeld des politischen Gedichts
(zu Michael Braun, Kathrin Dittmer, Martin Rector (Hg.): Gegenstrophe.
Im poetenladen, 2011)




28.01.2024
Nichts an Ägypten schien so seltsam wie die - nach Diodorus "übertriebene" - Verehrung der Tiere. Keiner schämte sich, wenn man ihm zusah, wie er die von ihnen verlangten "Liturgien" praktizierte. Zwischen diesen und den "feierlichsten Zeremonien der Götter" machten sie keinen Unterschied. Sie warfen sich zu Boden, um sie anzubeten - mit jener Geste, proskýnesis, die eines Tages in den orthodoxen Kirchen üblich sein würde. Sie hatten nicht vergessen, dass sich die ersten fünf Götter "den Menschen in Form von heiligen Tieren offenbart hatten".

(Zitate Diodorus Siculus: Historische Bibliothek I, 96, 3)
Roberto Calasso:
Der Himmlische Jäger
(übers. von Reimar Klein und Marianne Schneider - Kap. XII O Ägypten, Ägypten...) 2016 / 2020





21.01.2024
"Die Spätmoderne", lautet die soziologische Diagnose, "erweist sich als eine Kultur des Authentischen". Aber natürlich stellt Authentizität keine Neuerfindung unserer Zeit dar, auch wenn die Bezeichnung erst jetzt zur Prominenz gelangt. In Wahrheit ist sie Teil der langen Geschichte bürgerlicher Innerlichkeit, die mit pietistischen Seelenberichten beginnt, sich im 18. Jahr-hundert mit der Epoche der Empfindsamkeit fortsetzt und über die romantische Weltfühligkeit zur psychoanalytischen "talking-cure" reicht, mit der eine bis heute ungebrochene Geschichte subjektiver Seelenforschung und innerer Korrekturbemühungen gestartet wird.
Volker Demuth:
Der Hype der Authentizität
(Park #75, Zeitschrift für neue Literatur, 2023)






14.01.2024
Die Zeit verging. Und die Metapher befiel als Krankheit die Bilder. Der Mensch macht sich ein Bild von sich selbst und schreibt ein Gedicht mit den wahrsten Worten, die er kennt. Doch das Knäuel will sich nicht recht fügen, verknotet sich zurück in seine ursprüngliche, undurchsichtige Gestalt. Das Tier Innere Wahrheit verschluckt das Knäuel und gibt sich den Deutungen frei.  
Yevgeniy Breyger:
Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.
(Münchner Rede zur Poesie, Stiftung
Lyrik Kabinett, 5. 12. 2023)

07.01.2024
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