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Fundstücke - 2017

Poetik / Philosophie > Fundstücke
Neujahr

Ein Tag des Heils beginnt! Laßt alles Böse fern in Worten und Gedanken, jetzt sollt ihr an einem guten Tag nur gute Worte sprechen! Eure Ohren seien frei vom Zank, und böse Streitigkeiten sollen ganz beiseite bleiben, die neidische Zunge soll ihr Werk (auf einen späteren Tag) verschieben! Siehst du, wie der Himmel vom Weihrauchfeuer leuchtet, wie auf den angezündeten Opferherden die Ähre aus Kilikien knistert? Das Feuer flammt mit seinem Glanze auf dem Gold der Tempel und streut Licht in zitternder Bewegung hoch im Heiligtume aus.

Ovid:

Die Fasten

(I, 71 - 79), ca. 17 n. Chr.








31.12.2017

Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte, ohne zu hoffen,
denn Hoffnung wäre auf Falsches gerichtet; warte ohne zu lieben,
denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet; noch gibt es den Glauben,
doch Glaube und Liebe und Hoffnung sind alle im Warten.
Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif,
dann wird die Nacht dir zum Tag und die Stille zum Tanz.

T.S. Eliot:

Vier Quartette

(Quartett II, 3), 1936 - 42



23.12.2017

Die Schlange ist das Kontinuum. Oder die Erinnerung an das Kontinuum. Das Zeichen ihrer Klugheit, worin sie nach Genesis 3,1 alle anderen Tiere übertrifft, besteht darin, daß sie nicht gegliedert ist. Die Schlange ist das einzige Landtier, das nicht in Segmente unterteilt werden kann. Sie differenziert sich allein durch den Blick und den Biß. Darum haben dieser Blick und dieser Biß soche Kraft. Ihr ganzer übriger Körper ist das Kontinuum: das, was alle verloren  haben, das, zu dem alle Verbindung suchen, das, was so unausweichlich wiederauf-taucht, wie es sich wieder entzieht.

Roberto Calasso::

Das Rosa Tiepolos

(Kap. II: Theurgie am hellen Tag), 2010







17.12.2017

Wenn es je eine Aussage gab, die sich ganz von selbst
versteht, dann diese hier: die Welt - sie
ist ein großer Fisch. Ich hab ihn in meinem
Netz gefangen. Und jetzt, müde und bis spät
in die Winternächte hinein, studiere ich mein Netz.
Der Fisch stinkt“

Keith Waldrop:

gravitationen I

(Mein Knotenbuch für Dezember, 5) 1977 / 2017 (gutleut verlag)


10.12.2017

Man könnte sagen, dass der Mörder und der Schriftsteller an den entgegengesetzten Enden der Fiktion stehen: Der eine lebt in der Gefangenschaft der Einbildung, und der andere kreiert aus freiem Willen eine neue Welt der Einbildung für ein Publikum.

Connie Palmen:

Idole und ihre Mörder, 2005


02.12.2017

„Was bedeutet dies nun eigentlich? Es ist so, als ob jemand auf Reisen wäre und auf dem Weg in seine Heimatstadt in einem schönen Gasthaus einkehrte und dort bliebe, weil es ihm so gut gefiele. Mensch, du hast dein Reiseziel vergessen. Das Gasthaus war doch nicht dein Ziel, sondern nur als Raststätte gedacht. „Aber es ist doch so hübsch hier.“ Wie viele andere Gasthäuser sind auch hübsch, wie viele Wiesen ebenfalls – aber einfach nur vorübergehende Aufenthaltsorte.“

Epiktet:
Die Hauptsache nicht aus den Augen verlieren
(Lehrgespräch 2, 23, 34ff.)

1. Jh. n. Chr.




25.11.2017

Die im Alltag gesprochene Sprache fußt in der Zeit. Auch die Sprache vieler Gedichte fußt in der Zeit. Aber nun zeichnet gerade das Gedicht, das ich meine, aus, dass seine Sprache sich von der Realität und damit auch von der linearen Zeit lösen kann und eine eigene Wirklichkeit bauen darf. Das Wesen des Gedichts ist Irreverenz. Es ist ehrfurchtslos, es hat keinen Respekt vor Syntax, Regeln, Konventionen, und daher auch nicht vot temporalen Zwängen und Abläufen. Es kann die Erscheinungsformen der Zeit - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - zum Narren halten, es kann Zeiten überblenden wie es Orte vermengen kann.

Joachim Sartorius:
Der Mensch fürchtet die Zeit

Die Zeit fürchtet das Gedicht
(Münchner Rede zur Poesie) 2017







19.11.2017

Der Poetry Slam ist kaputt. Durchgeformt von einem erfolgs-orientierten Geschmack für Penetranz, der mit der aufdring-lichen Stumpfheit des deutschen Schlagers in einer Liga spielen will. Sogar an sich interessante Texte werden in diese Ästhetik eingespeist. Auch bei bestem Willen hält man so einen Vortrag nicht lange aus, das gibt dem Slam seine Aura von Wunder-waffe, weswegen die Goethe-Institute auf der ganzen Welt auf ihn Abonnements abschließen.

Ann Cotten:
Fast dumm
(Kap. Das Symposion) 2017




11.11.2017

Schönheit ist dazu gemacht, fortzudauern, im Menschen, in der Blüte, im Herzen, im Geist. Jene Flamme, den hochgestochenen Verleumdern zum Trotz, existiert genau im Zentrum, mitten im Herzen der Menge.

H. D.:
Texte zum Film
(In der Mütze #18) 2017
05.11.2017

Auch wenn ich hier dabei bin, die Aktie des Unverständlichen in der Kunst in die Höhe zu treiben, wenn ich – was auch Liebende, wenn sie die Kinderkrankheiten hinter sich haben, einfordern sollten – Verzauberung statt Verständlichkeit will, Geheimnis statt Klartext, so verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wenn ich jemanden nach dem Weg frage, will ich verstehen, was er sagt. Ich will, dass mich der Gemüsehändler versteht und er mir, wenn ich Kartoffeln verlange, die auch einpackt, und nicht Erdbeeren. Verständlichkeit hat ihre Vorteile. Ich will kein Missverständnis zwischen Cockpit und Tower, mit mir in der Maschine. Ich will auch keinen Chirurgen, der mich unterm Messer und im Kopf Gedichte hat, womöglich in seiner Freizeit selbst welche schreibt. Überhaupt sind mir die meisten Leser von Gedichten suspekt. Ich traue ihnen einfach nicht die Großzügigkeit zu, auf Glück aus zu sein. Wie gut es sich auch versteckt, man kann es finden – in der Stille, zwischen den Zeilen, in der Aufmerksamkeit auf ein inneres, die Gewohn-heiten des Denkens auslöschendes Hören.

Wolf Wondratschek:
Geheimnisse
(Aus seiner Rede zum Erhalt des Alternativen Büchner-Preises)
Okt. 2017












29.10.2017

Wir leben in einer zersplitternden Kultur, in der selbst das infrage gestellt ist, was vor ein paar Jahrzehnten noch Gewissheit war, und in der es ganz normal ist, dass junge Männer und Frauen nach jahrelanger Ausbildung nichts über die Welt wissen, nichts gelesen haben und sich nur in irgendeinem Fachgebiet auskennen, zum Beispiel mit Computern.
    Wir haben es da mit einer unglaublichen Erfindung zu tun - Computer und das Internet und das Fernsehen. Das ist eine Revolution. Es ist nicht die erste Revolution, mit der die Menschheit fertig geworden ist. Die Revolution des Buchdrucks, die sich nicht innerhalb einiger Jahrzehnte vollzog, sondern viel länger gedauert hat, hat unseren Geist und unsere Denkweisen verwandelt. Tollkühn wie wir sind, haben wir das alles wie immer hingenommen und nie die Frage gestellt: Was wird mit uns passieren, jetzt, wo der Buchdruck erfunden ist? Und ebenso wenig sind wir darauf gekommen, uns zu fragen: Wie wird sich unser Leben, wie wird sich unsere Denkweise verändern durch dieses Internet, das eine ganze Generation mit seinen Belanglosigkeiten verführt hat, sodass selbst einigermaßen vernünftige Leute zugeben, dass man sich nur schwer losreißen kann, wenn man einmal süchtig ist, und es sein kann, dass auf einmal ein ganzer Tag mit Bloggen und so weiter vergangen ist.

Doris Lessing:
Den Nobelpreis nicht gewinnen
(Nobelvorlesung 2007)


















22.10.2017

Warnung: Wenn du damit weitermachst, Geschichten zu erzählen, könnte eine eines Tages deine eigene sein. Oder sogar die Wahrheit.

Robert Kelly:
Gewissheiten (Die Maximen des Martin Traubenritter, Teil III - Mütze 17) 2017
15.10.2017

Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, - als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; - - und thaten ihren Mund auf - zu geflügelten Sprüchen.

Johann Georg Hamann:
Aesthetica in nuce,
(Kap. "Horatius") 1760



08.10.2017

Die Avantgarde bietet ein köstliches Schauspiel der Entrüstung, wenn sie sich nach einigen Jahren in eine Nachhut verwandelt hat.

Nicolás Gómez Dávila:
Es genügt, dass die Schönheit unseren Überdruss streift, (dt. 2007)
30.09.2017

„Der Roman kann ein Schwert sein. Als reflektierende und selbst-reflexive Form kann der Roman sich selbst richten, indem er eine permanente Selbstaufhebung betreibt. Er vollzieht sich im Flüchtigen, er flüchtet in Worten, weil er das Schwert nicht zur Anwendung bringen möchte. Er hat so viel Zeit, dass sich das Schwert verflüchtigt. Wer einen Roman schreibt, so ließe sich vielleicht schlussfolgern, leitet Gewalt in die Bewegung der Schrift um."

Michael Lentz:
Atmen Ordnung Abgrund
(Prolog)  2013




24.09.2017

„Und das Metrum? Das Metrum ist das Joch des Wortes."

Roberto Calasso:
Die Literatur und die Götter
(Kap. 7)  2001
17.09.2017

„Es gibt Gedichte, die man erst begreift, wenn man sie nicht ganz versteht. Das Begreifen greift weiter, denn das Verstehen endet immer beim Verständlichen, nicht aber die Poesie. Jedenfalls nicht notwendigerweise.
Das Begreifen umgreift den Sinn, zu dem etwas, das man nicht ganz versteht, in manchen Fällen wesentlich gehört."

Gerhard Falkner:
Dieses regionale Getreide
(in Daniel Falb: die räumung dieser parks) 2003

10.09.2017

„Das ambitionierte, aktive und netzwerkende Individuum, das darauf aus ist, in der Kunstszene Karriere zu machen, wird sein Ziel so gut wie nie erreichen. Den Sieg tragen nahezu antriebslose, zum loser geborene Nieten davon."

Michel Houellebecq:
In Schopenhauers Gegenwart, 2
2016 (2017)

03.09.2017

„Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?“

Ja, ich denke aber auch schnell. Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst und zehnmal so viel.

Wolfgang Herrndorf:
Arbeit und Struktur
(Blog - Eins) 08.03.2010
26.08.2017

"Was wir wissen beziehungsweise erfahren haben, können wir nicht immer <kommunizieren>. Mit Hilfe der Poesie erreichen wir die heimlich/unheimlichen Orte, in denen wir selbst nicht mit uns kongruent sind, unsere Körperschichten nicht exakt aufeinanderpassen. Kognition und Sprache, Intuition (nicht-sprachlich) und Sagbarkeit klaffen auseinander. Dabei ist beides wirklich, beides wahr. Wer das zu äußern sucht, stellt sich einem Paradox. Die Aufgabe: eine unmögliche Bewegung. Man muss für den Ausdruck eben das Mittel benutzen (Sprache), das an diesem Ausdruck seine Grenze findet."

Ulrike Draesner:
Die fünfte Dimension
(Münchner Rede zur Poesie)
2015





19.08.2017

"Unsere Schriften sind wie Speise, unsere Leser wie Gäste, unsere Bücher wie die Schönheit, was der eine bewundert, weist der andere zurück, und man schätzt uns je nach Gusto und Mode. Die Grillen des Lesers bestimmen das Schicksal der Bücher, und was dem einen gefällt, das findet der andere so widerwärtig wie die Sau Majoran. So viele Menschen, so viele Köpfe, und was dieser verdammt, entflammt jenen. Der hält auf Substanz, für seinen Nachbarn zählt allein die Sprache, mancher liebt den freien und ungebundenen Stil, ein vierter tritt für einen klaren Aufbau ein, für kraftvolle Zeilen, Hyperbeln, Allegorien. Der wünscht ein gediegenes Frontispiz und entzückende Illustrationen, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erzwingen; ein anderer lehnt alle Bebilderung ab. Was diesem bewunderns-wert dünkt, verwirft jener als lächerlich und absurd. Und wer mit dem Temperament seines Lesers, mit seiner Methode und seinen Vorstellungen nicht haargenau auf einer Linie liegt, wer nicht nach dessen Vorlieben und Abneigungen dazusetzt oder ausläßt, der gilt ihm als ein ungebildeter Klotz, als Trottel und Esel, als Plagiator, oberflächlicher Pfuscher und Hohlkopf. Oder aber das Buch wird als bloße Fleißleistung abgetan, als Kompilation ohne Witz und Erfindungsgabe, als Bagatelle."

Robert Burton:
Anatomie der Melancholie
(Kap.: Demokrit an den Leser)
1621
















13.08.2017

"Das Allgemeinste, was ich sagen könnte, wäre der Satz: Es fällt mir etwas ein. Das, was um mich her wie auch in mir selber vorgeht, bleibt bruchstückhaft in meinem Bewußtsein hängen; und zwar in der eigentümlichen Weise, daß es nur dort sprachliche Formulierung annimmt, wo Äußeres und Inneres sich verschränken und vermischen. Wörter, Wortgruppen, Sätze richten sich auf etwas, das mir begrifflich zunächst nicht einsichtig wird. Dennoch bedeuten diese Sprachteile so etwas wie Lichter, die meine grundsätzliche Blindheit durchbrechen. Das Prinzip, nach dem solche Einzelheiten sich zusammenfügen (das sozusagen formale Prinzip), ist ein thematisches. Das Thema ist dabei immer etwas, das den Effekt der konkreten Erhellung zu sammeln und zu summieren vermag (es ist nicht inhaltlich bestimmt)."

Helmut Heißenbüttel:
Dilemma im Mittelpunkt aller Erfahrung (Akzente, 8. Jg. 1961)










06.08.2017

"Wenn ein Dichter sich ändert oder entwickelt, pflegen stets viele seiner Bewunderer von ihm abzufallen. Jeder Dichter muß sich verändern, wenn er als Dichter sein fünfundzwanzigstes Jahr überleben will; er muß sich nach neuen literarischen Einflüssen umsehen; er wird andere Empfindungen auszu-drücken haben. Das irritiert ein Publikum, das es am liebsten sieht, wenn sein Dichter in allen Werken die Gefühle seiner Jugend weiterspinnt, ein Publikum, das jeden neuen Band seiner Gedichte mit der Gewißheit aufschlagen möchte, daß er sich in der gleichen Weise erschließen läßt wie der vorige."

T. S. Eliot:
Ezra Pound: Seine Metrik und Dichtung 1917






30.07.2017

"Der Dichter genießt dies unvergleichliche Privileg, daß er nach Belieben er selbst sein kann und ein anderer. Wie diese umherschweifenden Seelen, die einen Körper suchen, dringt er ein, wenn er will, in jedermanns Person."

Charles Baudelaire:
Die Menschenmengen (Les Foules)
(in "Petits poèmes en prose", 1861)
23.07.2017

"Sichtbarmachen ist eine Form des Übersetzens. Manchmal die einzige."

Uljana Wolf:
Über ein Gedicht von NourbeSe Philip
(in: Akzente 2 / Juni 2017)
16.07.2017

Die Flammen, sie brennen erst in den Zungen, den Sprachen. Niemand, der vom Feuer erfaßt ist, spricht: er schreit, kreischt und verstummt, für ihn gibt es kein Feuer. Niemand, dem das Feuer nicht auf den Leib rückt, dessen Haut, dessen Augen, Atem es nicht berührt und verschlägt, könnte vom Feuer reden. Feuer gibt es nur dort, wo eine Lücke im Feuer und eine Lücke in der Sprache des Feuers und der Sprache vom Feuer ist. Feuer heißt. Feuer heißt, der Geist, das Feuer, geht aus. Feuerschock, Panik des Sprechens vorm Gesprochenen, feu Fauchen, Aushauchen, -stoß des Atems, Vorstoß zur Atemlosigkeit, Geistlosigkeit, Feuerlosigkeit. Feuer, die ausgebrannte, aschene Stelle der Sprache.

Werner Hamacher:
Brouillon zu einer Phantasie über Feuer und Sprache
(in Mütze #1 - 2007/12)







08.07.2017

Die Sprache des Schriftstellers ist – nicht anders als die Geste des Künstlers – ein Spannungsfeld, dessen Pole der Stil und die Manier sind. Stil ist »der Habitus der Kunst«, die vollkommene Beherrschung der Mittel: Er besiegelt die Abwesenheit des Feuers, da alles im Kunstwerk enthalten ist und ihm folglich nichts fehlen kann. Es gibt kein, gab nie ein Mysterium, da es hier und jetzt und immerdar gut sichtbar ausgestellt ist. Doch durch diese herrische Geste geht zuweilen ein Zittern, etwas wie eine tiefsitzende Unsicherheit, die auf einen Schlag den Stil entweichen, die Farben verblassen, die Worte stocken, das Material aufschwemmen und gerinnen lässt. Dieses Erzittern ist die Manier, die, indem sie den Habitus ablegt, den Mangel und das Übermaß des Feuers bezeugt. Bei jedem wahren Schriftsteller, bei jedem Künstler findet man eine Manier, die sich vom Stil absetzt, und einen Stil, der sich als Manier entäußert. Auf diese Weise löst und zerreißt das Mysterium den Faden der Erzählung, und das Feuer lässt die Seiten der Geschichte in knisternde Flammen aufgehen.

Giorgio Agamben:
Die Erzählung und das Feuer,
2017














01.07.2017

Das einzige, wonach ich in einem Gedicht suche, ist Offenbarung. Ich glaube, Dichtung ist heute ein echter Prophet, ganz besonders heute, wo all die verschiedenen Bibeln so laut babbeln, dass man die Wüstenruhe des schwachen Gedichts braucht, um zu hören, wie ein neues Wort geboren wird. Was das Gedicht offenbart, ist, was der Dichter nicht wusste - das ist die erste Prüfung. Wenn dich das Gedicht mit dem überrascht, was es dich gerade hat sagen lassen, oder deine Hand gerade hat schreiben lassen, dann sind wir auf gutem Wege.

Robert Kelly:
Interview, Teil 3
(2006, in Mütze #16, 2017)





24.06.2017

Dichter versuchen immer, Flüsse zu sein, formschön und seicht. Seid stattdessen Ozeane, weit und sehr tief. Und vergesst das Salz nicht.

Robert Kelly:
Gewissheiten - Die Maximen von Martin Traubenritter, 2 (in Mütze #15, 2016/17)
17.06.2017

Verwende kein überflüssiges Wort, kein Adjektiv, das nicht irgend etwas enthüllt!
Verwende nicht Ausdrücke wie 'dunkles Land des Friedens'! Sie trüben das Bild. Sie vermengen Abstraktes mit Konkretem. Sie kommen aus der mangelnden Einsicht des Schreibenden, daß der natürliche Gegenstand stets das angemessene Sinnbild ist.
Hüte dich vor Abstraktionen! Erzähle nicht in mittelmäßigen Versen, was bereits in guter Prosa gesagt wurde. Glaube nicht, daß sich ein kluger Mensch hinters Licht führen läßt, wenn du dich um die Schwierigkeiten der unsagbar schweren Kunst guter Prosa drückst, indem du deine Arbeit in regelmäßige Zeilen hackst!

Ezra Pound:
motz el son - Wort und Weise, 1957









10.06.2017

"Ich weiß nicht, ob man die Poesie definieren kann. Ich glaube, daß sie undefinierbar ist und in dem Augenblick entsteht, da wir den Dingen, die uns am meisten am Herzen liegen, die uns mehr als unsere Gedanken anrühren und bewegen und die zu unserem tiefsten Lebensgrund gehören, Ausdruck geben. Diese Dinge erscheinen uns dann in ihrer menschlichsten Wahrheit und in einer Erschütterung, die fast über die Kraft des Menschen geht und weder mit Tradition noch mit Arbeit bewältigt werden kann, obwohl Poesie weder ohne das eine noch das andere entstehen kann. Die Poesie ist also wirklich ein Geschenk, wie im allgemeinen angenommen wird, oder noch besser: sie ist die Frucht eines Augenblicks der Gnade, dem häufig - vor allem in den alten Kultursprachen - ein geduldiges und oft verzweifeltes Bitten und Suchen vorangegangen ist."

Giuseppe Ungaretti:
(in: Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, 1965)










04.06.2017

"Die Frage der Mitteilung, das heißt dessen, was der Leser davon hat, ist nicht vordringlich: erscheint dem Dichter sein Gedicht richtig, so kann er nur hoffen, daß die Leser es schließlich anerkennen werden. Das Gedicht kann eine Weile warten; die Zustimmung einer kleinen Anzahl teilnehmender und urteils-fähiger Kritiker ist für den Anfang genug; es ist die Sache künftiger Leser, dem Dichter weiter als auf halbem Wege entgegenzukommen."

T. S. Eliot:
Vers und Drama, II
1951




28.05.2017

"Sprechen wir also von Dichtung, die sich als Prosa tarnt? Hat es Dichtung nötig, sich zu tarnen? Vor dem Leser, am Ende gar vor sich selbst? Wohl kaum."

Uljana Wolf:
Box Office
(Münchner Rede zur Poesie) 2009
20.05.2017

Was sind die Kriterien, nach denen Sie auswählen?

Das kann man in der Kürze fast nur in Klischees bzw. mit Schlagworten beantworten. 1. Formbewusstsein; 2. im Gedicht sollte mehr stehen, als die dazu verwendeten Wörter bezeichnen; 3. Kenntnis der Tradition; 4. Erkenntnisgewinn; 5. Sprachbewusstsein.

Christoph Buchwald
Elf pragmatische Fragen
(in: Jahrbuch der Lyrik 2017)



13.05.2017

Das System der theoretischen Ästhetik und die Formensprache der Kunst haben das Ideal des Schönen spätestens seit der Romantik depotenziert und durch eine Reihe anderer Werte ergänzt (das Interessante, das Choquante usw.). Der kunstinterne Grund dafür ist das rastlose Streben nach Neuigkeit und Differenzgewinn; unschöne Reize waren dafür bessere Garanten als das Fortschreiben klassischer Schönheitsregeln. Doch auch externe Gründe mögen zu dieser Neuorientierung von Kunst und theoretischer Ästhetik beigetragen haben. Die Entthronung des Schönen in der modernen Kunst steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur ubiquitär werdenden Affirmation des Schönen in den alltagsästhetischen Moden, in Design, Werbung und Kosmetik.

Winfried Menninghaus:
Das Versprechen der Schönheit
(Kap. VII: Zur heutigen Signatur von Schönheitsarbeit und ästhetischer Selbstbegründung), 2003







06.05.2017

Und muss ich den genauen Sinn ermitteln? Ein geglücktes Gedicht ist immer mehr, als man über es sagen kann. Es speist sich niemals nur aus Worten und Anspielungen, in ihm wirken verschiedene Kraftfelder, Logik, Intuition, Emotion. Dockt ein Text in mir an, können mir Passagen voll absichtlicher Dunkelheit schlagartig einleuchten.

Christoph W. Bauer:
Das zweite Auge von Florenz. Zu Leben und Werk von Guido Cavalcanti.
(Zwiesprachen. Lyrik Kabinett, 2017)

29.04.2017

Vielleicht gibt es keine andere Art, das Sein zu verstehen, als durch Kunst? Schriftsteller selbst analysieren nicht, was sie tun; zu analysieren hieße hinabzublicken, während man auf einem Seil eine Schlucht durchquert. Diese Aussage soll den Prozeß des Schreibens nicht mystifizieren, sie soll nur die intensive innere Konzentration in ein Bild fassen, die der Schriftsteller braucht, um die Abgründe des bloß Zufälligen zu überqueren und sie dem Wort zuzueignen, wie ein Eroberer eine Fahne aufrichtet.

Nadine Gordimer:
Schreiben und Sein
(Nobelpreisrede 1991)





22.04.2017

Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in  seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, daß, während  Seufzer und Geschrei ihnen ent-strömen, diese dem fremden Ohr wie schöne  Musik ertönen.
Sören Kierkegaard:

Was isr ein Dichter?
(in: "Entweder - Oder")

(1843) 15.04.2017

Von Zeit zu Zeit muß sich das Gedicht die Frage gefallen lassen, wozu es überhaupt da ist. Ein typisches Minderheiten-Problem. Entscheidend ist nun allerdings, wer das Gedicht nach seiner Relevanz befragt. Am fruchtbarsten ist es, wenn der Autor das selber tut. Nicht täglich, denn sonst schriebe er vielleicht keines mehr - aber doch immer wieder, denn dann schreibt er vielleicht ein besseres. Wobei es weniger darauf ankommt, wie der Autor die Frage beantwortet als vielmehr darauf, daß er sie ernsthaft stellt. Wenn daraus die Einsicht resultiert, daß ihm nicht zu helfen ist, befindet er sich auf dem richtigen Weg.

Rainer Malkowski:
Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten, 1
(in: Vom Rätsel ein Stück. Beiträge zum Werk des Dichters Rainer Malkowski, 2017 / Erstdruck; Akzente 48 (2001), Heft 1)


08.04.2017

Die schnelle Rhetorik randständiger Sprachen, offene Hermetik, von Orpheus im Studio eingesprochen. Orpheus nähert sich liebend den Sprachen, er nähert sich allen Sprachen: unter-schiedlos. Der Sänger-Dichter hält sich in der Nähe des Hermes auf, in der Nähe des Seelenführers Hermes, der viele Posten bekleidet, so ist er der Verwalter des Diebesschatzes der Sprachen, Fach- und Sondersprachen. Hermes, der Gott der Zitatkultur arbeitet auf seine nomadisch-viehdiebische Art am Projekt der Erinerung. Die Unterwelten sprechen ihre Welt-sprachen verschieden.

Thomas Kling:
Zu den deutschsprachigen Avantgarden
(Kap. Breitseite gesprochen)
2001





01.04.2017

"Es könnte sein, daß in aller Philosophie, fast gewiß in der gesamten Theologie, ein verborgenes, aber beharrliches Begehren lauert - Spinozas conatus -, das Begehren, dieser aufgezwungenen Knechtschaft zu entfliehen: entweder durch die Anpassung der natürlichen Sprache an die tautologische Genauigkeit, die Transparenz und Verifizierbarkeit der Mathe-matik (dieser kalte, aber inbrünstige Traum verfolgt Spinoza, Husserl, Wittgenstein) oder, auf rätselhaftere Weise, durch das Zurückgreifen auf vorsprachliche Intuitionen."

George Steiner:
Gedanken dichten
(Vorwort), 2011





25.03.2017

Ein Lied wie Ein Hund schlich in die Küche, das in acht kurzen Zeilen so ursprüngliche Themen wie Hunger, Sünde, Tod, kultische Trauer, Unsterblichkeit im Erinnertwerden abhandelt und in seiner Rondoform den nicht aufhörenden Reproduktions-zyklus dieser Themen betont - ein solches Lied ist pure Poesie.
Wir, die wir dem Neuen alles zu danken haben und das Geschäft des Änderns mit Eifer und Glück betreiben, stoßem hier auf ein mächtiges Bedürfnis nach dem Alten und Beharrenden. Dieser Widerstand kann unser Denken weiser machen. Das Neue ist nutzlos, wenn es nicht angestrebt wird, um sich zu bewähren, das Ändern ein Unfug ohne vorgestellten Erfolg des Änderns. So wie das Alte seine Tauglichkeit beweist durch die Fähigkeit, in Neues umzuschlagen, muß das Neue, taugt es was, umschlagen können in Altes. Bewegung ist nichts ohne Ruhe; ein Haufen Negationen allein macht noch keine Dialektik.

Peter Hacks:
Das Poetische, 3
(in: Kürbiskern 4/1966)











18.03.2017

Das Bild liegt tiefer als die Worte. Wenn er nachdenkt über die Einzelheiten des Bildes, verlieren sie sich schon. Er muß bedingungslos an den Wert eines Bildes glauben. Je besessener er vom Bild ist, je weniger er sich um die Anlässe des Bildes kümmert, desto überzeugender wird die erreichte Wirkung. Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bestandteile von Bildern und zerlegen sie. Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.

Peter Weiss:
Laokoon oder
Über die Grenzen der Sprache
(1963)




11.03.2017

Heute kann ich nicht an Symbole denken, ohne sie für die allergrößte der Mächte zu halten, ob sie nun bewußt von den Meistern der Magie oder halb unbewußt von ihren Nachfolgern, dem Dichter, dem Musiker und dem Künstler verwendet werden. Anfangs habe ich versucht, zwischen Symbol und Symbol zu unterscheiden, zwischen denen, die ich natürliche und frei erfundene Symbole genannt habe, doch die Unterscheidung hat mir schließlich so gut wie nichts mehr bedeutet. Ob ihre Kraft aus ihnen selber kommt oder sie einen willkürlichen Ursprung hat, ist von geringer Bedeutung, denn sie wirken meiner Meinung nach, weil die Große Erinnerung sie mit gewissen Ereignissen, Stimmungen und Personen in Verbindung bringt. Was immer die Passionen der Menschen zusammengetragen haben, wird in der Großen Erinnerung zu einem Symbol, und in den Händen dessen, der das Geheimnis kennt, bewirkt es Wunder und beschwört Engel und Teufel herauf. Die Symbole sind manngfaltig, denn alles zwischen Himmel und Erde steht in einem wichtigen oder unwichtigen Zusammenhang mit der Großen Erinnerung, und man weiß nie, welche vergessenen Ereignisse sie wie den Giftpilz und das Unkraut in die großen Leidenschaften verschlagen haben.

William Butler Yeats:
Magie, 7
(in: Gedanken über Gut und Böse)
1901
















04.02.2017

"Ein Gedicht antwortet allein der in es hineingesteckten Kraft oder allenfalls noch einer auf es gesetzten Hoffnung. Es ist durchdrungen von der Misere des Dichters, seiner Transparenz, seiner Verfallenheit an das Flüchtige, Unentschädigende, Narbende, Abendliche, aus denen immer wieder neue Anwendungen auf die Wirklichkeit erwachsen, eine Selbst-erhaltungstragik in der unentwegten Nähe zum Lächerlichen, die der Hang zur Vereinfachung und Allgemeingültigkeit mit sich bringt."

Gerhard Falkner:
Von der Poesie (1992)
(In: Bekennerschreiben, 2017)





25.02.2017

Es steht aber nicht schlecht um die Sache der Liebe, um die Sache der Poesie. Was wäre das sonst für ein nichtssagendes Wort: Baum? Was wäre das für ein stimmloses Wort: Nacht? Was wäre das für ein vergebliches Wort: Du?

Uwe Kolbe:
Dämon und Muse. (Münchner Rede
zur Poesie 17 im Lyrik Kabinett 2017)
18.02.2017

Ich sehe mich als jemanden, der der Sprache im Positiven wie im Negativen verfallen ist, der sexuelle Aspekt also, den Art-mann einmal erwähnt, zwischen Sprache und Dichter oder Dicherin. Der ist sehr wichtig: Die Sprache meinen und von der Sprache gemeint werden. Da ergibt sich das Unabsehbare und gerade Unabsichtliche eben durchaus, und das ist ja nun nicht am Reißbrett zu entwerfen. Insofern natürlich zum ursprüngli-chen Programm der Dichtung, eben dem Hermetischen stehend.

Thomas Kling:
Ein schnelles Summen
(Gespräch mit Hans-Jürgen Balmes und Urs Engeler, April 1994)
(In: Botenstoffe, 2001)


11.02.2017

"Der Schriftsteller", hat Ossip Mandelstam einmal notiert, "ist ein Gemisch aus Papagei und Pope." Als Papagei ist er Stimmenimitator, Adept und Nachplapperer der großen Verse und Prunkzitate der poetischen Altvorderen, als Pope beansprucht er bis heute - auch wenn er ihn nur subkutan oder im Gewand der Ironie in seine Texte hineinschmuggelt - den alten Wahrheitsanspruch des poeta vates für sich.

Michael Braun:
Papagei und Pope
Nachwort zur Anthologie
"Ansicht der leuchtenden Wurzeln
von unten", (Poetenladen) 2017

04.02.2017

„Ich sage: eine Blume! Und aus dem Vergessen, in das meine Stimme jeglichen Umriss verbannt, erhebt sich musikalisch, als etwas anderes als die gewussten Kelche, Idee selbst und lieblich die allen Sträußen fehlende.“

Stéphane Mallarmé:
Verskrise
1897
04.02.2017

Mein Dämon möchte, dass ich schreiend davonrenne, wenn ich einen Fehler mache, wenn ich mich irre. Er will, dass ich denke, ich bin so gut, dass ich perfekt sein muss. Oder gar nichts. Doch ich bin, ganz im Gegenteil: ein Wesen, das müde wird, gegen Schüchternheit ankämpft, mehr Schwierigkeiten hat als die meisten, die problemlos auf Leute zugehen. Wenn es mir dieses Jahr gelingt, meinen Dämon hinabzustoßen, wenn er sich erhebt, wenn ich kapiere, dass ich müde bin von meiner Tagesarbeit, müde vom Korrigieren der Aufsätze, und dass es eine nützliche Müdigkeit ist, kein Anlass, entsetzt loszuschreien, dann wird es mir nach und nach gelingen, mich der Wirklichkeit des Lebens zu stellen, anstatt davonzurennen, sobald es weh tut.

Sylvia Plath:
Die Tagebücher
(1. Oktober 1957)








28.01.2017

„Der Alltag wickelte mich ein. Ließ mich nicht los. Gewährte weder Empfindungen noch Worte, die zum Brandmarken, zum Neinsagen nötig waren. Lieferte keinen Stoff für einen Aufruf zum Optimismus. Daher nahezu als Regel: Zur Herstellung eines poetischen Erzeugnisses ist Veränderung des Ortes oder der Zeit erforderlich."

Wladimir W. Majakowski:  
Wie macht man Verse?
1926


21.01.2017

„Das diesen künstlerischen Gebilden innewohnende ästhetische Gesetz tendiert offenbar dahin, das Kalkül innerhalb des Sprachlichen zu durchbrechen, den mechanischen Charakter des Sprachlichen zu akkumulieren und über den Akkumulations-punkt hinaus wieder in ein Ursprünglich-Lebendiges aufzulösen; die Erkenntnis der Verdinglichungsstruktur auch des Sprach-lichen ist heute für den Künstler wesentlich.“

Johannes R. Becher:
Brief an die Frankfurter Zeitung 1923




14.01.2017

"Was mich an den Gedichten in Bann schlug, war die Fluidität ihrer iterativen Klanghaftigkeit, die Ebenen von Nicht-Bedeutung, von Klage als Klang, die Ausuferungen des Atems. Die Art, wie sich diese Klanghaftigkeit an der langue du fond [Grundsprache] des Lesers bricht als Überraschungsmoment, als Murmeln. Ähnlich wie das Übertreten oder Stolpern, das einen überwältigt, wenn man eine Sprache fließend spricht und plötzlich eine fremde zu lesen versucht."

Erín Moure:
O Cadoiro,
übersetzt von Uljana Wolf
(roughbook #037), Vorwort.
2016


07.01.2017

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