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Franz Blei: Das große Bestiarium der modernen Literatur, Teil 2

Memo/Essay > Memo
Franz Blei:
Das große Bestiarium der modernen Literatur
(1922)

Teil 2

Die großen Dichter Deutscher Nation

Abeles – nicht vorzustellen, wie eine so große Menschheitsliebe in so kleine Gedichte hineingehen kann!

Aman – hat nur eine kleine Geschichte von 11 Zeilen veröffentlicht, aber sie ist der Daumennagel eines Riesen.

Arnheim – hat sich mit einem Roman, in dem nur Partizipialsätze vorkommen, so sehr selbst übertroffen, daß wir ihm raten, es bei diesem einen Roman bleiben zu lassen. Nach solcher erreichter Gaurisankarhöhe kann nur ein Abstieg folgen.

Beman – der größte Dichter der allerjüngsten Generation. Statt einer Probe geben wir dem Leser unser Ehrenwort.

Bernheim – seine unvergängliche Tat ist die Abschaffung jedes Artikels in der deutschen Sprache. Sternheims schüchterner Versuch charakterisiert diesen Verfasser doch als einen Schriftsteller des Überganges.

Bronnen – sein Drama, in welchem der Embrio seinen Erzeuger mit der Nabelschnur erdrosselt, hat dem traditionellen jüdischen Familienproblem bis auf weiteres das größte Monument der Lösung gesetzt.

Bumcke – um von ihm zu sprechen, müßte man von allem sprechen, aber das Leben ist zu kurz.

Busse – man zittert, dieser Dichter könnte einmal aufhören, denn die Nation würde den Schmerz nicht ertragen. Wir raten, sich allmählich diesem Sirenengesang zu entziehen.

Cerfel – er läßt seine Lieder des ersten Lebensjahres auf seine Windeln drucken. Der Effekt der Dichtungen wird durch jenen auf den Olfactorius außerordentlich gesteigert.

Cohen – Verfasser eines Stückes, das zu sehen man nie müde wird, weil man es nicht spielt.

Cori Noy – ist durch einen einzigen Vers berühmt geworden, der so viel enthält, daß der Nachwelt nichts mehr zu sagen bleibt.

Dedekind – hat gegen das Sprichwort Sotto umbilico ne religione ne veritâ beides dort gefunden.

Donat– seit sie dichtet, nennt man Gefühle nur mehr Donate.

Emann – ist trotz herrlichster Werke so unbekannt geblieben, als hätte er den deutschen Schillerpreis bekommen.

Erfel – hat in seine Gedichte die Menschheit so völlig hineingepreßt, daß sie außerhalb dieses Bandes nicht mehr vorhanden ist.

Fecher – war durch seine proletarischen Dichtungen der Retter des Vaterlandes. Das Proletariat gab seine Revolution auf, als es an Fecher sah, wohin sie führe.

Flaischlen – seine Gedichte gehen so direkt zu Herzen, daß man gegen die unvermeidlichen Überraschungen der ersten Lektüre Vorsichtsmaßregeln treffen muß.

Gauke – seine Sonette stehen neben denen Petrarcas, mit dem Unterschied, daß der Italiener nur eine Frau, unser Dichter aber vier Dutzend unsterblich gemacht hat.

Gehmel – hat 999 Gedichte an seine Frau gemacht; alles von ihr ist drin; nichts fehlt.

Ginzkey – ist der Stolz seines kleinen Landes, das sich in seinem Unglück nur an ihm aufzurichten vermag.

Grataus – hat sich aus seinem Talent einen kleinen Bezirk gemacht und ist da nie herausgegangen.

Grutschke – hat einen Einakter gemacht und geschworen, einen zweiten erst dann zu dichten, wenn der erste vergessen ist.

Hauser – hat Dante so meisterlich übersetzt, daß seitdem der Italiener ganz vergessen ist. So ist zu übersetzen!

Häubler – ist das Genie der Wortzusammensetzungen. Er hat das berühmte Gedicht gemacht, dessen vierundzwanzig Zeilen, jede zu elf Silben, nur aus einem einzigen Wortekomposit bestehen.

Horlicka – sein Roman »Die Not von Wien« hat die Bevölkerung dieser Stadt ihre Not vergessen machen. Der Roman ist Österreichs einziger Ausfuhrartikel.

Huncke – sie hat ein Gedicht gegen Amerika gemacht, über das Amerika schäumt. Huncke aber wird von Japan gehalten.

Hütersloh – hat, konsequent einen Versuch eines im Namen Gleichklingenden weiterbildend, eine leider aus äußern Umständen unvollendete Periode geschrieben: nach Verbrauch von 7860 Kilo Papier ging dieses in Deutschland aus. Die wieder gehobene Produktion läßt hoffen, daß Hütersloh seinen Satz vollendet.

Karlchen – seine bissigen Satiren machen seinem harmlosen Herzen Ehre.

Kurcke – man hat zur Erklärung seiner tiefen Gedichte eine Kommission eingesetzt.

Lienhard – hat den Erdgeruch entdeckt und versucht, damit den Fußgeruch aus der deutschen Literatur zu vertreiben.

Lissauer – sein Lied gegen England erschien unter glücklichen Umständen, hatte aber schlimme Folgen, denn es machte die andern Nationen eifersüchtig auf ein Volk, das solch ein Genie besitzt. Sie beschlossen daher Deutschlands Untergang. Es ist manchmal unpatriotisch, zu schöne patriotische Verse zu machen.

Löbeles – hat grönländische Dichter so gut übersetzt, daß das Übersetzen Mode wurde, wodurch wir leider eine Unmenge Originaldichter verloren haben.

Marie Madelaine – die Wollust ihrer Gedichte stellt ihrer Keuschheit das beste Zeugnis aus.

Mevers – eine Erzählung von ihm wurde ins Französische übersetzt. Es sind schon wegen geringerer Ursachen Kriege entstanden.

Molfskehl – hat ein Distichon geschrieben, das nur einige Längen hindern, den Versen des Meisters gleich zu sein.

Mundelfinger – hat seine Trilogie Shakespeare Goethe George nur mehr durch einen Namen zu einer Tetralogie zu erweitern: Gundolf.

Nora, Nusche, Nowak, Numberger, Niezki Nutschke, Nogiges, Nierendorf, Nowasis – eine Milchstraße von Sternen! Unsere Mühe, sie einzeln festzustellen, war größer als die, sich diese Namen zu merken. Man merke sie sich!

Ompteda – er ist so fruchtbar, daß wir alle seine Talente nicht aufzählen können.

Pawalke – die Verse, die er den Musen abringt, lassen den Geiz der Damen bedauern.

Presber – der Homer des deutschen gutbürgerlichen Abtrittes.

Radau, Peter Paul Emil Heinrich – hat sich vier Vornamen gegeben in der Hoffnung, wenigstens mit einem von ihnen auf die Nachwelt zu kommen.

Raube – ist unter allen knorrigen Dichtern der Knorrigste.

Salus – seine Gedichte sind so beruhigend, daß sie in Spitälern als Umschläge für Kranke verwendet werden. Der Dichter ist auch Arzt – ist nicht Apoll der Dichter und Ärzte Gott?

Schering – hat durch seine Übersetzung Strindbergs die Schwerverständlichkeit dieses Schweden erwiesen.

Schroiker – setzt alle seine Operntexte in Musik, was sonst nie jemand gemacht hätte.

Sobelsohn – seine Verse sind einziger Genuß einer Pension Berlin Augsburgerstraße. Egoisten wie Genießer schon sind lassen sie den Dichter nicht bekannt werden.

Teitelbaum – hat die Milch seiner Amme in freien Rhythmen bedichtet. Die gerührte Amme spendet ihm seitdem das doppelte Quantum. Der Dichter ist die Freude seiner jungen Eltern.

Wrzizcinski – es gehört ein ungeheures Talent dazu, mit solcher Vorsicht, Rhythmus, Reim, Harmonie, Sinn und Klang zu vermeiden und doch solche herrliche Gedichte zustand zu bringen.

Zaruk – hat eine Hymne auf Zion verfaßt. Als sie dort bekannt wurde, verließen die 7600 Juden Palästina.

Zuberbühler – für ihn wurde das Wort »wurzelecht« erfunden.



Zur ideologischen Morphologiè der literarischen Bestiae

Das Faustische Urviech
Bei Bearbeitung der norddeutschen Fauna – soweit sie sich nicht mit der europäischen Abart der felis leo palestinensis gekreuzt hat, welche Abart ihre Behandlung im Bestiarium erfuhr – konnten wir einer immer mehr sich aufdrängenden letzten Konsequenz aus den bisherigen Schlüssen uns nicht mehr entziehen, und mußten wir zu der Annahme schreiten, daß alle jene unbeschnittenen Tiere von der Gattung der genannten Wiederkäuer, die ihre Hörner nur mehr zum geistigen Aufstoßen tragen, ihren Ahnen in einem Geschöpf zu erkennen hätten, dessen exorbitante Reste in den verkohlten Wäldern des 30 jährigen Krieges gefunden zu haben wir so glücklich waren. Die Schwierigkeiten der Rekonstruktion waren groß. Fest stand, daß wir es hier mit einem vollkommen isoliert lebenden Tiere zu tun haben, das (zum Unterschied vom gleichfalls isoliert lebenden romantischen Einhorn, welches jungfräuliche Geschöpf seine Gehirntätigkeit in aller gottgefälligen Unschuld emaniert) sein Horn in eifersüchtiger Weise nach innen gebogen trägt, wie uns ein tiefes Loch in der Stirnwand und ein in das Hirn gehender hörnener Kanal bewiesen. Mit diesem Horne hat also das Tier, statt sich oder seinen Daseinsprozeß in die Welt zu integrieren, diese Welt gierig in sich selber integriert. Was wir zum Unterschiede von einem faktischen Vorgange auf der menschlichen Ebene als die metaphysische Seite des Nasenbohrens ansprechen müssen. Diese anatomische Kuriosität forderte den Schluß heraus, daß dieses Tier sowohl sehr tiefsinnig wie sehr bockbeinig gewesen sein muß, denn bei so aufreibender und unendlich zu denkender Beschäftigung mit sich selbst, als welches das Nasenbohren oder Hineinstopfen der Welt in sich selber beschrieben werden muß, ist eine bis zu ibsenischer Tollwut gehende Gereiztheit gegen alle selbständige Umwelt unmittelbare Wirkung, wenn diese Umwelt es wagt, den geschlossenen Kreislauf des kompletten Ichgefühles zu stören. Der Starke ist am mächtigsten allein, besonders unter dünner gesäter provinzialer Bevölkerung, wo der als ein Starker mißverstandene Sonderling, das monströse Ich nämlich, eine gewisse panische Wirkung übt und die Korrektur durch eine das schrankenlose Individualisieren hassende, ja verachtende Gassenbubenschaft fehlt. Des immanent jähzornigen und überheblichen Charakters unsres Tieres gewiß, schlossen wir auch sofort auf bösartige Absonderungen, und richtig: die Analyse der Reste seiner Hervorbringungen ergab, daß es seine Nahrung in Gestalt und Geruch des Problema von sich gegeben habe, chemisch also bereits so gespalten, daß kein Spatzenmagen mehr darin Nahrung gefunden hätte, zum Unterschiede von den Äpfeln des freundlich spenderischen Pferdes. Diese boshafte Art, eine restlose Verdauung durchzuführen, also nichts sonst zu scheißen als den abstrakten Dreck, den Mist an sich, das vollkommen Verwertete – dies muß aus dem Umkreis des Tieres jede Natur verscheucht haben. Was so egozentrisch fäkalisierte, kannte nicht Vogel noch Käfer in seinem Umkreis. Kein Gemeingefühl, keine engere Horde kann es gehabt haben, ja, daß es in der weiblichen Art vorgekommen sein sollte, auch das ist, wenigstens theoretisch, undenkbar. Jedenfalls hat ein ursprüngliches Mitteilungsbedürfnis ihm nicht ingewohnt, was seine Beschränktheit auf den nordgermanischen Boden beweist. Wir haben uns daher auch nicht weiter bemüht, Spanien, Frankreich, Italien oder andere gottes- und himmelsüchtige Länder nach Spuren unseres Tieres zu durchforschen. Erscheint doch in diesen Ländern durch das Vorhandensein eines echten Publikums das Mitteilungsbedürfnis, auch wenn es dem literarischen Ego nicht ab ovo ingewohnt haben sollte, in dieses per nationis gratiam einverleibt, woraus folgt, daß eine Entartung des kunstfertigen Tieres zum wildschweifenden Schöpfer, der sucht, wie er sich selber verschlinge, nicht vorkommen oder schlimmsten Falles nicht zu Ende kommen kann. Hier möchten wir zu bemerken nicht unterlassen, daß ein ursprüngliches Interesse der Deutschen für ihre Literatur natürlich nicht besteht, dasselbe vielmehr erst durch Parasiten und Bakterien kritischer Art vermittelt werden muß. Das so erzeugte Interesse ist, wie ohneweiters klar, ein krampf- und krankhaftes, denn es entsteht durch Bildung, als welche ein äußerst unangenehmer und penetranter Aussatz ist.
    Nach vollendeter Rekonstruktion des Skelettes haben wir das so wiedergewonnene Tier, das in sich selber eine Niete ist, als das »faustische Urviech« klassifiziert, stolz darauf, den bisher illegitimen Bälgern der Gedankenblässe mit der ungestümen Leiblichkeit damit einen Vater und dem nichts als Individuellen sogar eine Vergangenheit verschafft zu haben.


Die Struktur des Meierschulze
Es war an einem Maiabend des Jahres 1785, daß Friedrich Wilhelm Meierschulze aus einem Hause der Metzgergasse in Königsberg trat, leichten Schrittes und stramm gehobenen Hauptes, und ohne rechts und links zu blicken die Postgasse hinunterging, wo vor einem scheunenartigen Gebäude eine Kutsche schon länger auf ihn gewartet zu haben schien. Denn der Kutscher saß bereits auf ihrem Bock, und sie rumpelte alsbald die Gasse hinunter, nachdem F. W. Meierschulze darin Platz genommen hatte. Vor der Stadt schlugen die Pferde einen muntern Trab auf der Chaussee ein, die nach Berlin führte, des Reisenden Heimatsort, in dem eine zahlreiche Verwandt- und Bekanntschaft seine Rückkehr seit etlichen Jahren schon ungeduldig erwartete, welch alle Zeit unser Meierschulze in jenem Sanatorium zu Königsberg zugebracht hatte.
    Sehr gehobenen Hauptes, leichten Schrittes und ohne nach rechts und links zu sehen, genau so verließ er das Haus. Und dessen war nicht Ursache die feinwehende Frühlingsluft, die ihn umfing – er achtete ihrer gar nicht im geringsten – und auch nicht, daß die Behandlung in dem Hause ganz ohne ihre Widerwärtigkeiten gewesen war, im Gegenteil, sie war oft recht rigoros, ja hart gewesen, wenn es auch der Patient nicht so gar sehr spürte. Denn er hatte in seinem Dasein so viel ertragen gelernt, daß es ihm dauernd den Rücken krumm bog – und diesen Schönheitsfehler zu korrigieren war er ja besonders in das Sanatorium des berühmten Mannes gegangen. Und der Fehler war korrigiert. Der Mann in immerhin schon gut mittleren Jahren hielt sich und stand und ging und sprach aufrecht wie ein Pfahl. Es saß sogar in seiner kommoden Kutsche wie ein Pfahl. Er hörte, brauchte man ihn später, diesen Vergleich nicht gerne. Denn es war gar keiner, und gerade daran wollte er nicht erinnert sein. Er wollte seinen überaufrechten Gang durchaus aus seiner Moral abgeleitet wissen, nicht, nun, es muß gesagt werden, aus dem Stock, den er auf Anraten des alten Professors verschluckt hatte, da nichts sonst helfen wollte. Als er nämlich die Geschichte seiner Leiden dem Königsberger Hexenmeister erzählte, kam er auch auf den Stock zu sprechen, den der alte König des öftern auf ihn hatte niedersausen lassen, zugleich mit dem Paradox: daß man ihn »nicht fürchten, sondern lieben« solle. Und da hatte schließlich der Königsberger, der doch sonst ein Feinschmecker war, den sonderbaren Einfall und Rat für den gekrümmten Patienten gehabt, er möge den Stock verschlucken, denn dann hätte er ja das Mittel, das zur Liebe zwinge, im eigenen Leibe, zugleich mit der den Stock schwingenden Kraft jenes, der die Liebe heische. Und nichts war einfacher als das. Friedrich Wilhelm Meierschulze schluckte und hatte seitdem einen aufrechten Gang, der etwas übertrieben aussah, aber immerhin Eindruck machte, wie er aus der Kutsche merken konnte, fuhr sie durch einen Krug; denn da standen die Bauernkerle bei seinem Anblick mit heruntergefallenen Armen und sperrten Maul und Augen auf.
    Wie sagte der alte Herr beim Abschied? »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Gesetz werde!« Ja, das war, so wußte er, wohl die kürzeste Fassung eines von jenem oft wiederholten Satzes, wobei es immer um Willen und Handlung herging, zwei Dinge, welche das arme Metökenherz unseres Meierschulze außerordentlich erfrischten, denn er fühlte sich, nach langen vergeblichen Anstrengungen zum Sein, durchaus zum Handeln geboren, wodurch er in einem Enkel und mit Hilfe eines kleinen philologischen Schnitzers – »das Leben ist ein Geschäft, drum handle« witzelte der Enkel – mühlos vom Handeln auf den Großhandel kam. Mit dem Willen, da wird es schon werden, dachte unser Held und schrie plötzlich laut auf »ich kann was ich will«, so daß der fromme litauische Kutscher ganz erschrocken auf dem Bock zusammenfuhr und ein Kreuz mit der Hand schlug, welche die Peitsche hielt. Denn er hatte die Gotteslästerung gehört und ihn schauderte.
    Was ihm der alte Herr in Königsberg für den Anfang prophezeit hatte, das traf ein: daß man F. W. Meierschulze eine Zeit lang für sehr krank halten und darum meiden würde, aber daß dies kleine Martyrium ihn, wenn dies überhaupt möglich, nur noch gesunder machen würde. »Das ist die Konkurrenz der veralteten Doktoren, wissen Sie, die ihre Wut über meine Heilerfolge an Ihnen auslassen werden. Besonders den Wilsen wird Ihnen gelegentlich einer arg verekeln wollen. Aber nur immer aufrecht, lieber Freund! Und da Sie ja den Stock –«. »Ich weiß, Herr Professor«, wehrte etwas in F. W. Meierschulze ab, denn der genannte Stock war noch nicht ganz fest eingewachsen und rührte sich manchmal als ein richtiger Fremdkörper, der er im immerhin fleischigen Leibe war.
    Man mied F. W. M. in der Tat. Man sah ihn nicht gern. Er litt. In der soi-disant Verbannung tröstete es den unentwegt Aufrechten nur wenig, daß er sie mit einem Freiherrn von Stein teilte, so nutzbringend ihm auch die Unterhaltung mit diesem Manne war, der an unseres Helden Aufrechtheit eine etwas ironische Freude zu haben schien. Es war wohl nur ein Scherz, doch Friedrich Wilhelm Meierschulze liebte solche Scherze mit heiligen Dingen nicht; aber es gab ihm doch einen hoffnungsvollen Trost, als der Freiherr einmal zu ihm sagte: »Tu es Petrus et in hoc petro ...«
    Darunter, seinem König nicht dienen zu können, litt unser Held damals unsäglich. Denn es fehlte so im Schachbrett seiner erkannten Pflichten ein Stein, und er war, auf das unbesetzte Feld stierend, gezwungen, diesen fehlenden Stein noch stärker als bisher zu denken, wodurch er sich ein theoretisches Wissen sowohl über seine Königstreue wie über seinen Pflichtenkomplex erwarb, womit er dann vier Generationen seiner Landsleute ausstatten konnte, ja, es profitierte sogar, und bis an den Bauch, eine siebente davon.
    Daß ihm das Exil und seine vorübergehende Dauer vorhergesagt worden waren, bestärkte ihn in seinem Glauben an die gelungene Kur und hinderte die Ausbildung eines Ressentiments, wozu übrigens auch die Zeit im Exil zu kurz war. So kurz, daß er es bald darauf überhaupt vergaß. Und dies um so leichter, als sich Meierschulze inzwischen so ausgedehnt hatte, daß er sich selbstverständlich vorkam. Und da begann er sich historisch zu konzipieren, was anfangs nicht ohne einige dialektische Kunststücke abging, da es galt, das historisch Vergangene so in das Gegenwärtige hineinzubringen, daß eine dem moralischen Habitus Meierschulzes entsprechende Zukunft herauskommen mußte. Worin dieses schwierige Kunststück der Geschichtskonstruktion versagte, darin kamen später andere Umstände zu Hilfe.
    Unser Held konnte ein gewisses Lächeln nicht vertragen, das er an seinen im Süden und Westen wohnenden Verwandten immer dann zu bemerken glaubte, wenn er das Wort »deutsch« aussprach. »Ihr wollt mir wohl mein Deutschtum nicht glauben?« konnte er da auffahren und machte sich bolzensteif mit Bauch heraus und Brust hinein, daß das zweireihige Jakett im Jägerschnitt nur so knackte. Er bekam darauf verschiedene Antworten, je nachdem er, sein Enkel, sein Urenkel, sein Ururenkel, sein Urururenkel die Frage stellte. Etwa diese: »Wir haben das Deutsche nur nicht so jede Zeit parat wie du, weil es bei uns ein guter alter Kasten ist. Nur Neuvermählte zeigen gern ihre Wohnungseinrichtung, die ihnen selber noch auffällt, weil sie ihnen noch nicht ganz richtig gehört. Unser alter Kasten, der steht schon so lang auf dem Fleck, daß wir ihn gar nicht mehr merken.« – »Jawoll«, sagte da giftig Friedrich Wilhelm Meierschulze VIII, »auch nicht, daß ihn Stück für Stück die tschechischen Würmer davon tragen.« Oder man sagte ihm: »Wir können halt in der Herstellung eines Champagners aus Apfelmost und Zucker so was besonders ehrenwert Deutsches nicht sehen, außer in der Benennung dieses Sudes, den du ›Kaiserblume‹ taufst.« Darauf antwortete hohnlachend Friedr. Wilh. Meierschulze IX: »Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser« und stimmte das Flottenlied an. Einer sagte ihm einmal: »Wenn seinerzeit die Tschechen so wie ihr Preußen und Wenden und Sachsen deutsch von uns gelernt hätten, dann wären diese verdeutschten Tschechen unsere Preußen, und in Wien hätte man statt tschechische Klofars und Kramars mit einem lauten ars deutsche Kramars und Klofars mit einem stummen ars, wie Ihr deutsche Bülows und Quitzows mit einem stummen Weh habt.« – »Also du meinst, es sei eine Rassenf rage innerhalb der deutschen Nation?« schnarrte Friedrich Wilhelm Meierschulze X. – »Das meint er wohl nicht,« sagte ein Fremder, »sondern nur, daß Sprachgemeinschaft noch nicht unbedingt Volksgemeinschaft oder gar Kulturgemeinschaft bedeutet. Die englisch sprechenden Irländer sind deshalb noch keine Engländer. Und die französisch redenden Vlamen noch keine Franzosen. Zu Metöken werden jene, welche Sprache und Sitte der Eroberer annehmen.« – »Wir Metöken?« – »Ja, in der Seele, dort, wo ihr den Staat herumtragt.« – »Und der Staat ist nichts?« – »Er ist euer zum Gesetz der Welt erhobenes Metökentum.« – »Handel und Gewerbe lagen in Griechenland allein auf den Schultern der Metöken.« – »Wie heute in der Welt. Ganz richtig. Nur daß damals Handel und Gewerbe nicht den Staat ausmachten wie heute. Neben Perikles saß nicht ein Schneider im Amte kraft seines Schneidertums. Darum seid ihr heut die Mächtigen, denn ihr habt heute die Macht des Staates, kennt daher nichts als ihn und wollt nichts anderes als ihn, denn Zweck und Sinn eures Lebens erfüllen sich nicht menschlich oder göttlich, wie es sonst der Brauch, sondern staatlich, und das heißt ohne persönliche Verantwortung.« Nach solchen Debatten pflegte der jeweilige Meierschulze auf sein wohlgeordnetes Besitztum zu sehen, seine Kontore, Kanzleien, Krane, Lifte, W. C.'s, Schiffe, Soldaten und der zweifelhaften Wirtschaft dieser oder jener seiner südlichen Verwandten vergleichend sich zu erinnern, um allsofort wieder sein vollkommenes Gleichgewicht zu finden. Aus dem er eigentlich nie gekommen war, denn er verstand die andern gar nicht, und die andern ihn nur wenig. Auch deshalb, weil man, um sich etwas zu verständigen, auf ein Deutsch sich geeinigt hatte, das eigentlich kein Mensch redete. Und zudem war es ein reiner Zufall, daß sie überhaupt miteinander und deutsch redeten. Ein anderes Mal ging ein Gespräch so: »Lieber Bruder, du bist vortrefflich in der Not...!« – »Ohne mich« – »Gewiß, ohne dich verloren in der heutigen Welt für Heutiges. Aber deine Art schafft uns eben die Not! Ja, manchmal kommts mir vor, als ob du wie vom bösen Geist besessen die Not extra schafftest, um dich so recht als Nothelfer zu zeigen, dein Dasein schön zu beweisen, dem ohne die Not der Sinn fehlte, den wir ihm zu geben gewohnt sind und den du aus deiner Art nicht anerkennen, kaum verstehen kannst, weil er dir nicht Pflicht wird und der als Pflicht, als ein so Selbstgesetztes, überhaupt nicht zu fassen ist.« – »Aber du siehst doch den Zerfall überall dort, wo mein Pflichtbewußtsein nicht herrscht.« – »Und die andern sehn den Verfall dort, wo es herrscht, oder sie geben ihren Verfall zu und sagen, dein Pflichtleben verursache ihn, denn es verdränge das Leben. «Was du lebst, das impostierst du andern, denen es nicht im Wesen liegt und bei denen es daher nicht gedeihen kann, wie bei dir. Das nennst du dann Verfall der Welt, aber es ist nur deine bestimmte Welt, die auf die ganze Welt ausgedehnt überall dort verfällt, wo sie eben nicht leben kann.« – »Gut ist, was im heutigen Leben –« – »Verzeih die Unhöflichkeit der Unterbrechung, aber wir wollen nicht aus Vergleichen gut und schlecht, wahr und falsch bestimmen, denn das Urteil ist hier unwichtiger als dies, daß es und von wem es und wie es ausgesprochen wird. Und da ist nichts weiter zu sagen, als daß du in der heutigen Welt mit deiner Pflicht dich bis auf weiteres besser behauptest als der andere, den nicht die Pflicht vollkommen definiert, wie du sie allein kennst. Du bist nichts als der Stärkere in der jetzigen Welt, die in ihrer augenblicklichen Artung deiner Art günstiger ist. Du hast wie die Juden, die Schotten, die Norweger, die Amerikaner, lauter deinige Verwandte, die größere Anpassungsfähigkeit an das heute Kurrante, und das ist für dich gut, und deshalb auch, aber nur für dich, an und für sich gut, das Gute schlechthin.« – »Ich handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können,« antwortete der betreffende Meierschulze, nunmehr schon nichts mehr sonst als der leibhaftige kategorische Imperativ. Und das ist sein Malheur, dachte der andere, daß dieser Meierschulze mit uns sprachverwandt ist, und sich daher zugleich auch noch denken kann. Er wäre sonst ein so umgänglicher Amerikaner.
    Friedrich Wilhelm Meierschulze machte sich seine Geschichte, denn Unsicherheiten der Herkunft verlangten eine Ahnenreihe, die auch bis Wittenberg zustande kam. Bis dahin. Denn da es ihm vor allem und auf nichts sonst eigentlich ankam als auf das Fortschreiten, ließ sich in Hinsicht auf den Weg bis Luther nichts weiter empfinden als die Freude, daß diese Zeiten wirklich überstanden seien, die er mit Vorliebe und stiller Verachtung die ›dunklen‹ oder, redete er öffentlich, ›finstern‹ nannte. Und er war glücklich, in der absoluten Gegenwart, nach der er strebte – und die ihm auch die Zukunft einschlang – keine andern Spuren jener finstern Zeiten zu finden als solche, die er sich ästhetisch zurecht legen und damit, wie auch mit der universellen Bildung, vom Halse schaffen konnte. Ja, es setzte ihn das Unhistorische seiner eigenen Lebensform, welcher der Begriff der Dauer fremd war, erst recht in stand, jenen Historismus zu produzieren, den einer die historische Krankheit nannte. Sie bestand darin, daß der hermetisch in seinen Pflichtbegriff wie Insekt in Bernstein eingeschlossene W. F. M. um sich ein Leben sah, dessen organisch sich formenden Werte aus historischer Kontinuität des Seins – und nicht des Wollens – sich produzierten, und die selber zu produzieren er sich ganz außer stand merkte. So versuchte er, sich diese Werte aus der wissenschaftlich disziplinierten Bildung wenigstens anzueignen, worin er auch bald jeden schlug. F. W. Meierschulze wurde der wissenschaftliche Mensch schlechthin. Er wurde der Mann, den man überall in der Welt und in allen Sprachen ›Professor‹ nannte. Er verfaßte dickste Bücher über Malerei, trotzdem er den einen Maler in seiner Familie als einen Taugenichts auslachte und einen anderen, der überhaupt kein Maler war, ein malerisches Genie nannte. Er schrieb Abhandlungen über den Geschmack, trotzdem er Stilformen aus dem Zweckgedanken erfand. Er beherrschte sämtliche indianischen Dialekte, nur die deutsche Sprache schrieb er, daß einem speiübel wurde. Er erfand das Gesamtkunstwerk mit ethischen Absichten, weil er das Einzelkunstwerk mit ästhetischen Absichten weder zustande bringen noch aufnehmen konnte. Nichts war vor seinem wissenschaftlich gedrillten Verstande sicher, nicht einmal der Verstand selber. Denn gelegentlich verleitete ihn sein in allem Gewesenen und Seienden herumvagabundierender und suchender Bildungstrieb dazu, seinem Verstand eine mystische Maske zu geben und gegen den Verstand zu Felde zu ziehen: er wurde höchst verständig verrückt. Aber das waren seltene Extratouren von sehr kurzer Dauer. Im Grunde waren unserm Helden beide Formen, in denen Outsider der Familie gegen die Aufklärung, diesen falschen Vertrag zwischen Wissenschaft und Orthodoxie, protestierten, gleich zuwider: sowohl die Form Goethes, der zugunsten des Denkens entschied, wie auch die Form der Romantik, welche zugunsten der Orthodoxie entschied. Unser Held war für Schiller, für die Aufklärung und den Fortschritt, seines ethischen Pflichtenkomplexes als des Normativen sicher.
    Im verschluckten Stock, dem physiologisch-anatomischen Erbstück der Familie Meierschulze, besaß unser Held ein Attribut des Königs, der Stock und Pflichten auferlegte, im eigenen Leibe. Der Untertan wurde sein eigener Untertan und erkannte sich. W. F. M. propagierte den Demokratismus der Pflicht, die er hinreichend abstrakt faßte, so daß sie leicht alle Konkretierungen annehmen konnte. Er schuf damit keine Demokratie, die ja nichts als ein gefühlter Zustand ist, sondern die Organisation.
    Der Begriff des Lebens deckte sich ihm mit dem Vorstellungskomplex einer zweckhaften Organisation erkannter Pflichten, wobei sich die Pflicht immer mehr aus ihrer bisherigen ethischen Kategorie herausbegab und gern jedem Ding als Etikette aufgeklebt wurde, das sich ohne diese Tabulierung nicht hantieren ließ. Diesem seinen Lebensbegriff ordnete unser Held auch die Wissenschaft unter, indem er ihre Methoden zu ihrem Sinne überhaupt machte, – die Wissenschaft wurde nichts als Methode, was sie gegen den bisherigen Sinn der Wissenschaft so sehr abhob, daß die Meierschulzes nicht ganz unrichtig von einer deutschen Wissenschaft sprechen konnten.
    Friedrich Wilhelm Meierschulze liebte es überhaupt, vor gewisse Begriffe das Wort deutsch zu setzen, nicht nur aus dem begreiflichen nationalen Stolze des Herrn gewordenen Metöken, sondern in wenn auch nicht ganz deutlich gewordner Einsicht, daß die Sache in seiner Hand etwas anderes geworden war. Er sagte zum Beispiel: »Der Deutsche Gott.« Oder er sprach von deutscher Treue, etwas mit dem Tonfall, als ob es wo anders keine gäbe, und es irritierte ihn wenig, als ihm – es war um 1866 – ein Bayer sagte, daß sich das Wort deutsche Treue wie eine Übersetzung von fides punica ausnehme. Er parierte damals mit »unabwendbarer Folge« – Meierschulze der Elfte sagte amerikanischer »Logik der Tatsachen« – und er flüchtete sich in die Hegelsche Geschichts- und Rechtsphilosophie, aus der sich eine Auserwähltheit jedes Volkes leichter lesen läßt als die Juden die ihre aus dem alten Testament. Wenn Meierschulze sich auf eine Diskussion von Rechtsgründen damals nicht einließ, so geschah es, indem er, seines metaphysischen Rechtes wie seiner ewigen Seligkeit aus dem alleinigen Glauben sicher, sich nur und auf nichts sonst als auf den Existenzgrund berief. Seit Sadowa stützte er sich auf die Kanone und trieb Rechtsstudien auf der Artillerieschießstätte. Das gab ihm so viel Sicherheit, daß er um diese Tatsache sein Leben gruppierte, später als er es niederschrieb gelegentlich und unter dem Pseudonym Heinrich Treitschke veröffentlichte. Meierschulze, der klein zu bleiben geboren war, wäre ohne den geschluckten Stock auch klein geblieben. Aber der Stock streckte ihn: er wuchs an ihm, wurde nicht größer, aber massig.
    Dieses Prooemium meines deutschen Romanes, den zu schreiben nur Faulheit hinderte, nicht die oft besprochene Unmöglichkeit eines deutschen Romanes, steht hier an diesem Ort, weil es die wichtigsten Strukturteile der deutschen Seele enthält, wie diese sich heute zeigt. Auch in den Belles lettres und ihren Verfassern. Kapitel des Romanes enthalten mit allem Fleische, auf welches das Prooemium verzichten muß, unter vielem auch dieses: Meierschulzes Italienreise, id est seine künstlerische Ambition, seine Hochzeitsreise nach Paris, id est seine erotische Ambition, seine Fahrt nach London, id est seine geschäftliche Ambition. Enthält Das Wartburgfest, id est seine Religion. Sein Besuch bei Bismarck, id est seine Politik. Sein Empfang Roosevelts, id est auch seine Politik. Seine Depesche an Ohm Krüger, id est noch immer seine Politik. Die Gründung des Palais de Danse, id est seine mit dem Geschäft multiplizierte »Pariser« Erotik. Sein Kulturkampf, das ist sein Kulturkampf. Sein Eucken, das ist sein Idealismus für Minderbemittelte.      Sein Reserveoffizier, das ist sein Idealismus für Höherbemittelte usw. usw.
    Ich werde den Roman doch noch schreiben und schenke den Stoff niemandem.


Der Freud
Der Freud ist zunächst eine zu Fackelkraus analoge Sprachbildung. Mit überraschender Weglassung des Vornamens und durch die Hinzunahme vertraulichen Augenblinzelns gibt sich hier eine Bekanntheit und zugleich eine Intimität mit dieser Bekanntheit, die nun ihren Ruhm auch in der ganzen Menschheit ausbreiten könnte, ohne doch aufhören zu können, eine lokale und esoterische Bekanntheit zu bleiben. Denn diese ganze begeisterte Menschheit würde eben bloß zu Wienern, zu Lesern der Fackel und der psychoanalytischen Schriften: der Begriff der Menschheit würde eingeengt statt erweitert werden kraft einer fluchartigen Affinität der Leser zu ihren Autoren. Was den Freud anlangt, so verwandelte sich da der Genius der Menschheit auf dem Lokus des Allzumenschlichen in den Genius loci und der Wiener »Stock im Eisen« erhöbe sich zur Säule des Herakles, welcher Name hinwieder nur das antike Pseudonym für den Fackelkraus ist, der insofern – allerdings mehr Crêpe de Chine als Atlas – die ganze Schuld am Weltkriege trägt, als und umsomehr er durch immer heftiger betonte Schuldlosigkeit seiner Person Gefahr läuft – man soll den Gott nicht an die Wand malen – zum agnus dei zu werden, das diese fremde Schuld dann hinwegnehmen müßte. Wie das Sonntagspublikum unserer Zoologischen Gärten sich um den Affenkäfig drängt, weil der Affen physiognomische, die Distanz scheinbar wieder aufhebende Nähe zur Komik wird, so sammelt sich eine Waisenschar der illegitimen Kinder ahndungsvoll um ihre Väter, den Freud und den Fackelkraus, in der verschämten, aber zudringlichen Form des Abonnenten oder Patienten, Scheinkomplemente des Wahlvaters, diesen zur Legitimierung von Schemen lockend, die er gezeugt durchs Wort er weiß nicht wie und weiß es doch; und so muß er in unerhörter Weise mit diesem Worte, dieser Sprache ringen gegen Neurose und Lektüre, als Arzt das Leben, das er geschaffen, abtreibend, als Publizist wieder einsammelnd in sich, was er ausgegossen. Der Fall, daß ein Publizist sein Publikum zurücknimmt, also inmitten der Publizität diese selber aufhebt und nichts sonst schildert als die Wonne des Wegschauens von dem, was seine Schilderung im Konkreten auswirkte: welch eine Verzweiflung, die sich an den Worten erhängt, welch ein Schauder vor der Erkenntnis seiner selbst, aber auch welch ein Genießen am Strick!
    »Lieber krank werden, als unbehandelt von solchem Arzte durchs Leben wandeln, der mit der Lust, der Libido auf dem besten Fuße, dem Pferdefuße steht!« so ruft in der hypokriten Gesellschaft, welche natürliche Bindungen nur noch markiert und der die Kriege auf das Haupt kommen müssen, um der eingebildeten Übel wieder Herr zu werden, das alte Maß der wirklichen Leiden wieder herzustellen, so ruft am Generationsende aller Laster der Müßiggänger aus. »Lieber überhaupt lesen können als nicht lesen können, was der Kraus über mich geschrieben hat,« so ruft des in Wien so Vielgenannten namenloser Zeitgenosse, dessen von Gottes Zuchtrute noch unbefriedigter persönlicher Masochismus sich wollüstig getroffen fühlen will in dem allgemeinen Porträt dieser Zeit. Er nimmt die Gefahr der Bildung in Kauf, die Gefahr des Zusammentreffens mit den bedeutenden Phänomenen der Schrift, nur um lesen zu können auf dem Höllentore, wer er sei: ein Schurke, ein Schieber, ein Schmock – aber er siehts gedruckt, gedruckt in der ihm heiligen rotbroschierten Schrift, er ist da in ihr, immerhin auf der Seite der Böcke, aber er ist da, er lebt, er hätte es nicht geglaubt!
    »Dieser ist mein vielgehaßter Sohn, an dem ich mein Mißfallen habe«, so verkehrt sich im Munde des falschen Propheten das Wort, und nur bei dieser Verkehrung wohnt das Blasphemische solcher Schriftstellerei, welcher mit dem unmöglichen Versuche, den Journalismus in den Bezirk der Sprache zurückzuführen, aus welchem er sich selber durch einen Akt der Einsicht gestoßen hat, ein ganz anderes, unbeabsichtigtes gelungen ist: daß die Steine, die sie hinter sich gegen die Leute geworfen hat, diese Leute erst aus dem Boden gestampft haben! Für jeden entlarvten Betrüger standen ihrer zehn auf und da und hatten anstatt Karriere plötzlich ein »Höheres«, eine verschwommene, verschmockte Art Gewissen, die – »Hemmung« nämlich, die sie nun nicht weiterließ, hin zu den ihnen bei den Königen bereiteten Stühlen, zu den Redaktionsschemeln nämlich. Die Hemmung ließ sie nun nicht hin, sehr zum Wehe aller andern Berufe und insonders der Dichtung, wohinein nun alle Gehinderten können, sofern sie nicht noch immer dichtgedrängt bei der tausendsten Vorlesung ihres Propheten stehn, weder vor noch zurück können, die Ausgänge der Redaktionen verstopfen und die Eingänge zu den psychoanalytischen Ordinationszimmern – ein Greuel für Gott und den Teufel.
    Jener nahm den mediokren Subjekten die Lust zum Schlechten, aber gab ihnen nicht die Lust zum Guten, gab ihnen den Stein der Hemmung statt Brotes und zeugte so Wesen, Menschen, die es nicht in Wahrheit gibt, sondern nur in der Hysterie. Jener sprach über das Gute nicht dämonisch, und das machte den Andern nötig, den Regimentsarzt seiner Marodeure, die zum ewigen Rückzug befehligt werden und nach den Wonnen eines unerreichbaren geistigen Hinterlandes schmachten. Das macht den Freud nötig als den psychologischen Definitor der Hemmung und machte zum ersten Male das sittliche Phänomen der Lauheit zu einer Krankheit, also zu einem außersittlichen Phänomen, also zu nichts und alles, was nach ihrer Behebung geleistet werden könnte, zunichte, da die volle und werthabende sittliche Entscheidung in der Hilflosigkeit und Verlassenheit von jedem Außen erreicht werden muß.
    Zoologisch gesprochen ist der Freud die zum Wurm im Apfel der Sünde degenerierte Schlange des Paradieses. Da der Teufel aus dem Mythologischen ins Psychologische fiel, tauchte der Verführer auf als der Arzt. In dieser Rolle korrespondiert er gleichsam unauffällig mit dem Tode, nimmt ihm zum Schaden der Seele einen Teil der Schrecken. Als Arzt ist der Teufel trotz seines Falles subaltern geworden. In der Gestalt der Schlange des Asklepios hält er die Würde des bösen Prinzipes wenigstens noch an einem Stabe aufrecht, gleicht jedoch einem Könige ohne Land, da er dieses doch notwendigerweise durch die Pyrrhussiege seiner Therapie verlieren muß, ohne es allerdings gänzlich durch den wahren Sieg über sich und die Sünde, wie ein absolvierender Priester, aufgeben zu können. Er bleibt im beruflichen Protest gegen die Gesundheitsfiktion Besitzer des Landes, d. h. der Notwendigkeit von Übel und Sünde. Da dieser Schlange gewesene Wurm gewohnt war, in unendlichen Zeiträumen zu denken, erscheint ihm sein Apfel als eine Globe, als eine ganze Welt. Es ist daher müßig, mit dem Freud über die Allgewalt der Libido zu streiten. Denn gerade in der Setzung dieser Allgewalt hat er sein ursprüngliches Wesen wahr. Sprach er als Schlange einst: eritis sicut deus, so spricht der jetzige Wurm: seid wie die Psychoanalytiker. Denn die missionierende Kraft der psychoanalytischen Schriften ist größer als ihre Absicht, die Therapie. Wider den bewußten Willen ihrer Autoren. Aber so geht nun einmal ihr Verhängnis und beweist den Satz, daß außer dem einen Arzte kein Heil, auf lateinisch: extra ecclesiam non est salus. Die böse Materie ist nämlich durchaus stärker als jeder sie voraussetzungslos Erkennende. Es kann das Böse nicht ohne bedeutende Gefahr für den Erkennenden erkannt werden, insofern dieser nicht auch die letzte Affinität zu ihm in sich gelöscht hat. Aber Wiener und Juden, diese beiden Kinder des Desillusionismus, können metaphysisch nicht untergehn; sie vermöchten in einer absoluten Entscheidung nicht zu leben; weswegen sie den Dreh lieben und den Begriff des Nebbich, also den Trugzug des Mattsetzens und das anarchistische Attentat auf das Continuum: den Bombenwurf des Nebbich. Wiener und Juden sind vermöge einer ahasverischen Lebensdauer mit allem, was fliegt, kriecht, singt, malt und dichtet, heilig oder erhaben genannt wird, intim, weil der Schein, daß sie alles das könnten, schon und wenn schon und von Akiba her und für alle Zukunft stärker in ihnen ist als die protestantische und protestierende Tatsache des schlechthin einmaligen in Subjekt wie Objekt, woraus der Problematiker seinen tiefen Respekt vor den Dingen zieht und vor sich selber. Diesen Respekt können Wiener und Juden nie haben wegen ihrer pseudometaphysischen Intimität mit sich, untereinander und mit allem was ist: also haben sie da in dem Freud, in dem Wurm und seiner Methode sich zu winden die wissenschaftliche Erlaubnis gefunden, kein Geheimnis mehr weiter mit sich noch außer sich zu haben. Zum ersten Male wieder seit langem tritt der Arzt als Magier auf, beinah mit einer Irrlehre, eingedenk also seiner Präexistenz als Schlange, und mit einer Praxis, die bis auf den Daimon des intuitiven Durchschauens ohne weiteres zu erlernen ist, welcher Daimon zudem jeden, der ihn besitzt, zum Arzte macht. Sokrates, der sich selber Arzt ist! Ahnt man, worum es hier geht? Das hohe Ziel der Erkenntnis wird unglaublich tief gehängt, die ahasverische Person möchte sich auf- und auswickeln, zu Ende kommen; die Schlange, schon Wurm geworden, möchte endlich ganz verschwinden. Mittelst einer Schein-Nichtexistenz des Teufels soll Gott aufgehoben werden. Über alles die Schweigsamkeit: nichts sagte Franz von Sales lieber. Ich bescheidener Zoologe sage nur noch: Hütet die Lust in jeder, auch in gestrafter Gestalt vor den Ärzten! Habt Achtung vor der Sünde und den Leiden aus ihr! Seid euch selber sehr geheimnisvoll auch im Bösen. Geht lieber unter als zum Arzte geistigen Schiffbruches. Denn eine gewisse Gesundheit möget Ihr gewinnen, was Ihr aber verliert ist der Adel.


Antigonus und Philaminte
Jedes Kunstwerk muß exemplifizieren, den Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir wollen uns daher keiner zufällig durch die Zeitung oder von der Phantasie uns zugewehten Geschichte hingeben, sondern uns diese in bewußter Konstruktion selber herstellen. Annehmend, daß Begriffe mittlerer Allgemeinheit eine allseitige Fruchtbarkeit zeitigen, sei der Held im Mittelstande einer größern Provinzstadt, sagen wir etwa in der Person eines Gymnasialsupplenten lokalisiert. Soferne derselbe Mathematik und Physik unterrichtete, kann vorausgesetzt werden, daß er diesen Beruf aus einer kleinen Neigung und Begabung zur Auflösung näherer Probleme erwählt habe, denen er in eigenen Studienjahren mit schöner Hingabe, roten Ohren und einem kleinen Glücksgefühl im klopfenden Herzen oblegen haben dürfte, ohne allerdings die Erstellung weiterer und höherer Aufgaben und Prinzipien zu bedenken oder zu erstreben, wohl aber mit der Ablegung der Lehramtsprüfung einen logischen, definitiven und bürgerlichen Abschluß findend. Es paßt in den solcherart imaginierten Charakter, daß er die Formen des Lebens mit der gleichen Selbstverständlichkeit hinnehme wie die Formeln der Mathematik: beide als seiende Dinge, über deren Realität man sich keine weiteren Gedanken zu machen hätte, denen Fiktivität zuzumuten verwunderliche Schrulle wäre und deren einzige Problematik in gewissen Schwierigkeiten ihrer Kombinationsfähigkeit, das heißt Auflösbarkeit sich dartue. Die Einteilungsfähigkeit und -aufgabe der rechnerischen und erlebten Materie war ihm stete Sorge, aber auch interessiertes Vergnügen, und immer darauf erpicht, daß »es genau ausgehe«, hatte er zu den Fragen seiner sogenannten Wissenschaft dasselbe Verhältnis wie zu denen seiner Stundeneinteilung, seiner Geldsorgen und denen jener Lebensfreude, die ihn als solche gar nicht berührte, die er aber irgendwie mitzumachen sich verpflichtet fühlte, da sie von den Kollegen anerkannt wurde, mithin ein seiendes Ding darstelle, dessen Forderungen zu erfüllen waren. Er trank ohne sonderliches Behagen Bier, besuchte nachher das öffentliche Haus, hatte Wege zum Spezialarzte, gab Stunden, fuhr auf der Straßenbahn, stand im Laboratorium, fraß in den Ferien an Mutters Tisch, schwarze Nägel zierten seine Hände, rötlichblonde Haare seinen Kopf, von Ekel wußte er wenig, Linoleum schien ihm ein günstiger Bodenbelag.
    Eine solche Existenz, vollständig determiniert von den Dingen einer ebenen Außenwelt, in der kleinbürgerlicher Hausrat und Maxwellsche Theorie einträchtig und paritätisch durcheinander-stehn, muß als Minimum von Persönlichkeit angesehn werden, so daß sich mit Recht die Frage erhebt, ob ein solches Non-Ich Gegenstand menschlichen, geschweige denn novellistischen Interesses sein dürfe, da man ja sonst ebensowohl die Geschichte irgend eines toten Dinges – sagen wir beispielsweise einer Schaufel – entwickeln könnte.
    Dieser Einwand ist um so berechtigter, da nicht einzusehn ist, wie sich die Verhältnisse mit Ablegung der Lehramtsprüfung wesentlich ändern sollten. Wohl mußten im Kopfe des Helden – Namen tun nichts zur Sache, er heiße also Antigonus – doch auch irgend welche eigene Gedanken gewesen sein, umsomehr als die kleine Denkbegabung zur Mathematik unleugbar vorhanden war, aber sie blieben an das hier und jetzt Gegebene gebunden. Immerhin verdichtete sich dieses Denken zur Zeit der Examina zu gewissen Zukunftshoffnungen und vagen Bildern: er sah sich im eigenen Heim, sah, wenn auch ein wenig schwankend, das künftige Speisezimmer, aus dessen abendlichem Dunkel die Konturen eines schön geschnitzten Anrichteschrankes und der grünliche Schimmer des wohlgemusterten Linoleumfußbodens deutlicher sich abhoben. Auch ließ das Futurum exactum dieser Formungen ahnen, daß in jener Wohnung eine Hausfrau vorhanden zu sein haben werde, was jedoch alles, wie gesagt, schemenhaft blieb. Die Erheiratung einer Frau war ihm im Grunde genommen unvorstellbare Angelegenheit: wenn ihm auch beim Bilde der zukünftigen Hausfrau gewisse erotische Schwaden durchs Gehirn zogen und etwas in ihm meckerte, daß er deren Unterkleidung so genau kennen werde, mit allen Fleckchen und Löchern, wie seine eigene, wenn ihm also jenes Weib einmal als Mieder, einmal als Strumpfband angedeutet wurde – dies auszudrücken, vermöchte eine hierherzusetzende Illustration Kokoschkas – so war es ihm anderseits undenkbar, daß ein konkretes Mädchen oder Weib, mit dem man normale Dinge in normaler Syntax reden könnte, irgendeine sexuelle Sphäre hätte. Frauen, die sich mit derlei beschäftigten, standen völlig abseits, keinesfalls niedriger als jene, aber in einer völlig andern Welt, die mit der, in der man lebte, sprach und aß, nichts gemein hatte: sie waren andere Lebewesen fremdester Konstitution, die stumme oder zumindest unbekannteste irrationale Sprache redend sich vorzustellen ihm nahe lag. Denn wenn man – ohne auch gerade biervoll zu sein – zu diesen Frauen gelangte, so geschahn die Dinge mit großer zielbewußter Fixheit, und niemandem wäre es beigefallen, etwa über Staubtücher – wie seine Mutter – oder über diophantische Gleichungen – wie die Kolleginnen – zu reden. Es erschien ihm daher unerklärlich, daß es je einen Obergang geben könne von diesen rein objektiven Themen zu jenen subjektiven, es war ihm dies ein Hiatus, dessen Entweder-Oder (ein Urquell alles Sexualmoralismus) sich übrigens gleicherweise in der Wedekindschen Psyche leicht aufweisen läßt.
    Wenn wir also Antigonus in die Konstruktion einer erotischen Begebenheit hineinsetzen wollten, so dürfte sich die Möglichkeit ergeben, daß er im Dilemma seiner Determinanten jene voluntaristische Entscheidungsfähigkeit eines verantwortlichen Ichs erlange, die ihn zu novellistischer Heldenhaftigkeit eben doch berechtigen würde.
    Vorderhand geschah natürlich nichts dergleichen. Antigonus legte die Examina ab, erhielt eine Supplentenstelle mit dem Auftrage, sein nunmehr abgeschlossenes Wissen weiterzugeben, was ihm unschwer gelang, denn dieses war ihm, wie bereits berichtet, in keiner Weise persönliche Angelegenheit, sondern eben ein Paket, das nunmehr säuberlich abgeschnürt und handlich sowohl dorthin als daher gelegt werden konnte. Aus der gleichen Vorstellung heraus gab er dem Schüler kleine Paketchen seines Wissens, und dieser mußte sie ihm in Gestalt von Prüfungsergebnissen wieder zurückgeben. Wußte der Schüler nichts zu antworten, so bildete sich Antigonus die wenn auch nicht klare Meinung, jener wolle ihm sein Leihgut vorenthalten, schalt ihn als verstockt und war solcherart mit einem gewissen Temperamente an seinem Berufe beteiligt. Hatten die Schüler sein Wissen zur Leih, so war ihm jedes Klassenzimmer, in dem er unterrichtete, bald Aufbewahrungsort eines Stücks seines Ichs, gleich wie der Kasten in seinem kleinen Monatszimmer, der seine Kleider beherbergte und die er sinngemäß als ebensolche Teile selbigen Ichs rechnete. Fand er in der Tertia seine Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu Hause im Waschtisch seine Schuhe vor, so fühlte er sich unzweideutigerweise der Umwelt gegeben und verknüpft.
    Solches Leben währte einige Jahre. Hierauf trat die von uns als notwendig vorweggenommene erotische Erschütterung ein. Um nicht fernab zu schweifen, gesellen wir Antigonus ein naheliegendes Komplement bei, nämlich seiner Hauswirtin Töchterlein, das einem meiner Freunde zuliebe Philaminthe genannt sei.
    Es entsprach der Weibauffassung des Antigonus, jahrelang ohne irgendeinen Wunschgedanken neben einem Mädchen einherleben zu können. Ob dieses Negativum auch der Wesenheit des Mädchens entsprochen hatte, bleibt eigentlich irrelevant, denn Antigonus wäre sicherlich nicht der Mensch gewesen, ihr bürgerliches Seufzen zu verstehn, und da es ohne männlichen Angriff eben meistens nicht geht, so wäre ihr Begehren gewißlich in Kürze eingeschlafen. Es ist daher anzunehmen, daß Philaminthes Phantasie, gleichgültig ob sie sich jemals mit Antigonus befaßt hätte oder nicht, auf auswärtige Objekte gerichtet war, und man wird nicht fehl gehn, ihr romantischen Charakter zuzusprechen. Es ist beispielsweise in kleinern Städten üblich, täglich den Bahnhof zu besuchen, um den durchfahrenden Schnellzug anzustaunen, einer Sitte, der Philaminthe gerne folgte. Wie leicht ist es nun möglich, daß ein junger Herr, am Fenster des abrollenden Zuges stehend, dem nicht unhübschen Dinge zugerufen hätte: »Komm doch mit«, eine Begebenheit, die Philaminthe fürs erste in einen blöde lächelnden Pfahl verwandelt hätte, der nur mit schweren Füßen nach Hause gelangte, nachts aber sie von nun an immer häufiger träumen ließ, daß sie mit müden, ach so müden Beinen enteilenden Zügen nachzulaufen hätte, die auf Griffweite erlangbar in nichts versanken; blickte sie dann tagsüber von der Näherei auf, stundenlang den aufreizend unvollkommenen Zickzackflug der Fliegen um die Stubenlampe verfolgend, so erstand jene Bahnhofszene aufs Neue: es wurde ihr deutlich, daß sie wohl noch auf den abfahrenden Zug aufspringen, vielleicht eine rührende Verletzung bei diesem kühnen Sprunge davontragen hätte können, um sodann gebettet auf den weichen Polstern der I. Klasse und handgehalten von ihm in die dunkle Nacht hinauszufahren; Schaffner hätte sich, nachdem er Buße für die fehlende Fahrkarte samt reichlichem Trinkgeld erhalten, unterwürfig zurückgezogen, und es blieb nur offen zu überlegen, ob im entscheidenden Augenblicke die Notbremse ihrer Ehre erreichbar gewesen wäre oder nicht, da beide Alternativen atembeklemmende Möglichkeiten boten. In solcher Sphäre lebend, hatte sie also wenig Sinn für Antigonus, denn wenn sie auch nicht seine grau-gestrickten Socken, die sie ausbesserte, gestört hätten – auch den Schnellzugsgeliebten würde sie wohl nicht anders als grausockig präzisiert haben, wenn sie sich die Frage überhaupt vorgelegt hätte –, so stand doch fest, daß Antigonus seine Sonntagsausflüge mit Rucksack und Gamsbart IV. Klasse besorgte, und selbst der Hinweis auf die Pensionsfähigkeit seiner Laufbahn hätte nicht vermocht, ihr Blut rascher fließen zu lassen.
    So versteht es sich, daß diese beiden Menschen nur aus raumzeitlicher Zufälligkeit aneinander geraten konnten, daß in grob-materialer Dunkelheit sich ihre Hände aus wirklichem Zufall begegneten und daß das Begehren, das jäh zwischen Männer- und Frauenhand da emporflammte, zu ihren eigensten Erstaunen es tat. Sie sprach die reinste« Wahrheit, als sie, an seinem Halse hängend, wiederholte: »ich wußte ja nicht, daß ich dich so lieb habe«, denn das konnte sie vorher wahrlich nicht wissen.
    Antigonus fand sich durch den neuen Sachverhalt einigermaßen beunruhigt. Er hatte nun den Mund stets voll Küssen, und stets sah er die Türwinkeln ihrer Umarmungen, die Bodenstiege ihrer raschen Zusammenkünfte vor sich. Schläfrige Pausen erlebte er am Katheder sitzend, kam mit dem Lehrstoffe nur ruckweise vorwärts, hörte den Prüflingen nur zerstreut zu und schrieb indessen »Philaminthe« oder »ich habe dich lieb« aufs Löschblatt, dies jedoch keinesfalls in normaler Buchstabenfolge, sondern er verteilte, damit des Herzens Geheimnis sich nicht verrate, die Buchstaben nach willkürlich erklügeltem Schlüssel über das ganze Löschblatt, wobei die nachträgliche Wiederzusammensetzung der magischen Worte ein zweites Vergnügen an ihnen darstellte.
    Wenn er dabei Philaminthes über alle Maßen gedachte, so sah er sie allerdings nur in ihrer flüchtigen Geschlechtsbereitschaft. Hinter den Türen Geliebte, in der Öffentlichkeit neutrale Gesprächspartnerin – das heißt, man sprach vom Essen und der Häuslichkeit –, war ihm das Mädchen doppeltes Lebewesen geworden, und während er des einen Namen sehnend aufs Löschpapier malte, war ihm das andre gleichgültig wie ein Möbelstück.
    Philaminthe, dieserhalb weniger punktuell veranlagt, faßte eines Tages ihre Erkenntnis in die glücklich gefundenen, glücklich gewählten Worte: »Du liebst nur meinen Körper«, und wenn sie auch zwar nicht recht wußte, was sonst Liebenswertes an ihr zu finden wäre, ja wenn sie sich – und da kann Wedekind wieder als Zeuge angerufen werden – auch wahrscheinlich jede andre Art Liebe verwundert verbeten hätte, so war dies weder ihr noch ihm bekannt, und beide empfanden die aufgeworfene Tatsache als Kränkung.
    Antigonus nahm sichs zu Herzen. Hatte ihr Liebesspiel bis jetzt erst nachmittags begonnen, wenn er aus der Schule heimkehrte und die Mutter ausgegangen war, während stiller Übereinkunft gemäß der Morgenstunden relative Ungewaschenheit von dieser ästhetischem amourösen Tätigkeit ausgeschlossen geblieben war, so bemühte er sich nunmehr, die Universalität seines Liebens durch dessen Ausdehnung auf sämtliche Tagesstunden zu beweisen. Nie verabsäumte er in der Folge, den ihm knapp vor dem Schulgange gebrachten Kaffee rasch schlürfend, ihr einige innige und leidenschaftliche Worte zuzuraunen, und die Zusammenkünfte auf der Bodenstiege, früher bloß ein eilendes und ununterbrochenes Finden von Mund zu Mund, wurden nun vielfach zu einem sinnigen, stummen Aneinanderpressen und Handverschränken verwendet. Auch sie schien Zugang zu seinem Geiste zu suchen: korrigierte er abends seine Hefte und waren sie allein zu Hause, so wurde diese Zeit oft nicht mehr zu tollen Umarmungen verwendet, sondern sie nötigte ihn bei seiner Arbeit zu bleiben, die er unter der Petroleumlampe am Speisezimmertische ausführte, räumte inzwischen im Halbdunkel beim schöngeschnitzten Anrichteschranke und kam nur manchmal zu ihm, seinen blonden unter der Lampe gebeugten Scheitel, der wenigen Haarschuppen nicht achtend, zu küssen oder, Hand auf seiner Schulter oder Schenkel ruhend, sich still und traulich zu ihm zu setzen.
    Wir wollen nicht rechten, ob die Mutter im Hinblick auf seine Pensionsfähigkeit häufig genug abwesend war, denn weder Antigonus noch Philaminthe dachten in ihren Seufzern vorderhand an bürgerlichen Segen, vielmehr hegten sie eine panische Furcht vor plötzlicher Heimkehr der Alten, hatten für diesen Augenblick immer einen genau festgelegten Sitz- und Beschäftigungsplan parat, um den Kupplerblick, soferne die abgearbeitete Alte einen solchen gehabt hätte, was aber schließlich doch nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, mit Harmlosigkeit aufzufangen.
    Es war also keineswegs Angst vor der Ehe, deren Joch er in seiner Liebesbereitschaft sogar willig akzeptiert hätte, die ihn in einen Zustand des Unbehagens brachte, sondern wir müssen, soferne wir die Setzung dieses Unbehagens gelten lassen, uns der schematischen Weibauffassung erinnern, in der Antigonus früher lebte, um zu verstehn, daß ihm die neue Sachlage nicht sonderlich adäquat sein konnte und daß sich Komplikationen ergeben werden. Es könnte beispielsweise Antigonus an seiner steten Aufgabe zur Gefühlssteigerung, an seiner unausgesetzten Spannung, das »ich-hab-dich-lieb«, das beim ersten Kusse zwar erstaunlich aber immerhin einfach ins Wort trat, jetzt mit einem Pathos erfüllen zu müssen, dessen Arsenal keineswegs einfach zu handhaben war, glattweg ermüden und sich aus seiner komplizierten Hingabe nach jenen einfachen und ruhigen Formen der Liebe sehnen, die einst die ausschließlichen für ihn waren; ein Augenblick der Hemmungslosigkeit könnte bald eintreten, und Antigonus würde fliegenden Pulses zum Ziel der Sehnsucht seiner niedrigen Lüste enteilen, um allerdings allsobald, im gleichen Tempo und in schweigender Angst vor dem Spezialarzte, zu Philaminthe zurückzujagen, die Sprachlose mit der Erzählung einer romantischen Verführung – die Frau eines Generals zog ihn in ihr Haus und Schlafgemach – imponierend zu überrumpeln. Wir wollen den sich anschließenden atemlosen Dialog Heinrich Mann überlassen und uns nach andern Kombinations- und Entwicklungsmöglichkeiten umsehn.
    Antigonus malte nach wie vor Philaminthes Namen auf Löschblätter, doch ohne Teilnahme, setzte das Wort auch nicht wieder aus kunstreicher Zersplitterung zusammen, sondern verfolgte mit gereizter Aufmerksamkeit die Schüler, die weniger denn je wußten. Die Anspannung seiner Gefühle hatte ihm den Begriff des Seienden verschoben: lag es früher in seinem kleinen Wissen, das er mit den Schülern tauschte, in den Kleidern, die er in bestimmter Ordnung anlegte, in der pflichtgemäßen Rangordnung, in der er mit Vorgesetzten und Gleichgestellten zu verkehren hatte, so hatten diese unzweifelhaft berechtigten Belange nunmehr unliebsamerweise in seinem Ich keinen Platz mehr: Philaminthens Aufgaben, die er eben wie jede andere voll auf sich genommen hatte, war eine Unendliche, denn mehr als ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen Punkte streben, und dies zu vollziehen, bedurfte es aller Kräfte der armen, erdgebundenen Seele. Und muß diese das aufgeben, was ihr wirkliche Welt bedeutete, also ihr ausgebreitetes metaphysisches Werterlebnis, so ist sie leicht geneigt, nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze wunderbare Phänomen ihres bewußten Seinsbestandes zu entwerten und zu negieren.
    Alles Unendliche ist einmalig und einzig. Und da des Antigonus Liebe sich bis ins Unendliche projizierte, wollte sie auch einzig und einmalig sein. Dem aber stand die Bedingtheit ihres Werdens gegenüber. Nicht nur, daß er zufällig gerade an das Gymnasium dieser kleinen Stadt versetzt wurde, nicht nur, daß er zufällig gerade bei Philaminthens Mutter Zimmerherr werden mußte: es war die wahllose Zufälligkeit des so plötzlich perfektionierten Liebesbeginns, die er nunmehr als Ungeheuerlichkeit empfand, und die Erkenntnis, daß das Begehren, das damals zu ihrem Erstaunen in ihren Händen emporschoß, das gleiche sei, das er in den Armen jener Frauen erlebte, die er jetzt als Huren beschimpfte. Doch hätte er sich über diesen Mangel an Einmaligkeit, so sehr er ihn auch wirklich schmerzte, von seiner Seite schließlich hinweggesetzt, wenn er ihn nicht folgerichtigerweise auch bei Philaminthen hypostasieren hätte müssen. Denn das Subjekt kann in seinem Streben nach Unendlichkeit zu eigenerlebter, einmaliger Universalität vielleicht wachsen, seinen objektiven Gegenpol zu gleicher Größe zu erweitern, bedarf es aber einer Phantasie, die wohl Dante, jedoch kaum Gabriel Rossetti, zum wenigsten Antigonus, aufbrachte. Dies heißt aber, daß er die Flamme des Begehrens stets um Philaminthens Händen sah und, obwohl ihrer Treue sicher, an der Möglichkeit ihrer Untreue leiden mußte und sicherlich tiefer als er es in jedem materialen Fall vermocht hätte.
    So wurde er nicht nur in der Schule unleidlich, sondern auch dem Mädchen gegenüber. Setzte sie sich, ihrer Gartenlaubenhabitüde folgend, traulich zu ihm, so riß er sie manchmal an sich, biß ihr die Lippen wund, um sie einandermal wieder ungelenk wegzustoßen; kurz, er äußerte alle Ungezogenheiten der Eifersucht in ihrer rüpelhaftesten Form. – Es muß eigentlich nicht eigens erzählt werden, denn es versteht sich von selbst, daß Philaminthe schon längst, in Mutters Eßzimmer, Antigonus' Geliebte geworden war. Wenn sie damals ihre letzte Gunst, wie sie das nannte, was in Ansehung des von allem Anfang an als selbstverständlich Gewährten eher als symbolische Besitzergreifung zu bezeichnen wäre, wenn sie diese letzte Gunst auch lange hintangehalten und sich eigentlich erst gegeben hatte, als er, um ihr eben zu beweisen, wie seelisch er liebe, keinerlei diesbezügliche Wünsche und Gesten mehr äußerte, so lag es jetzt auf dem Wege ihrer gradlinigen Phantasie, daß sie, keiner Schuld sich bewußt, die Krise, die sie mit Verständnislosigkeit an ihm bemerkte, durch die verpönte körperliche Liebe zu heilen suchte, ihm eifrig das entgegenbringend, was sie sonst, schelmisch erhobenen Fingers, ihm so gern verzögerte. Die Arme! sie wußte nicht, daß sie damit nur Öl ins Feuer goß. Denn wenn Antigonus die sogenannte Gunst auch nicht verschmähte, so war es nachher um so ärger, denn umso klarsichtiger erkannte er, daß das ihm Geschenkte ebensowohl und mit gleicher Leidenschaft jedem andern hätte zu Teil werden können.
    Er hatte sich nie mit andern verglichen, hatte stets seinen Unwert nur an der Unendlichkeit seiner Aufgabe gemessen. Nun sah er auch mit Schrecken, daß eine Unzahl junger und eleganter Männer durch die frühsommerlichen Straßen sich bewegten, und nie verließ ihn mehr der Gedanke, daß jene mit Leichtigkeit und im Meßbaren bleibend, lächelnd über ihn, den Über-sich-ausholenden, nicht nur Philaminthens, nein aller Frauen Liebe genössen, die allesamt für ihn bis jetzt unberührbar, doch nichts anderes seien als schlechte Weiber.
    Zu ihr zurückkehrend, würgte er sie am Halse mit der Motivierung, niemand, hörst du, niemand könne und werde sie je so lieben wie er, und die Tränen des entsetzt geschmeichelten Mädchens, dessen romantischer Sinn die Situation bejahte, flossen mit den seinen zusammen, beschließend, daß nur der Tod von solcher Qual erlösen könne.
    Philaminthens Phantasie nahm das Wort des Sterbens auf und wandelte die Vorzüge der Todesarten ab. Die ungestümen Formen ihrer Liebe forderten ein großes Ende, und sie hätte sich nicht gewundert, hätte ihnen Edschmid 16 gedungene Mörder auf den Leib geschickt. Da dies jedoch nicht geschah und sich auch nicht die Erde zu erwünschtem Beben öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu speien anfing, vielmehr Antigonus trotz schmerzverzerrter Miene täglich zur Schule wandelte und sie schon voll blauer Flecke war, vermochte sie ihn, ein Ende zu bereiten, daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und wir, die wir es herbeiführen, mit ihm, daß damit die Würfel gefallen seien. Mit trockenem Munde, feuchten Händen betrat er das Waffengeschäft, stotternd das Verlangte bezeichnend und gleich sich entschuldigend, daß er solches zu seiner Verteidigung auf einsamen Wanderungen benötige. Mehrere Tage hielt er seinen Kauf verborgen, und erst, als sie, eines Morgens den Kaffee bringend, ihm mit zurückgeworfenem Kopfe zuflüsterte: »Sage mir, daß du mich liebst«, legte er ihr zum Beweise die Waffe auf den Tisch.
    Nun erfolgten die Dinge mit großer Eile. Den nächsten Sonntag trafen sie sich, sie einen Besuch bei einer Freundin vorschützend, wie so oft, im Nachbarorte zu gemeinsamer Wanderung. Ein letztes Mal sich in den Armen zu ruhen, hatten sie einen verschwiegenen Waldplatz mit schöner Fernsicht auf Berg und Tal gewählt, dem sie nun zustrebten. Aber der Blick, dessen Weite sie sonst als schön bezeichneten, sagte ihnen in ihrer Beklommenheit nichts mehr. Sie durchstreiften bis in die Nachmittagsstunden ziellos den Wald, hungrig, da das Essen nicht zum Tode paßte, und ruhten endlich wahllos und erschöpft zwischen den Büschen. »Es muß sein«, meinte Philaminthe, und Antigonus zog die Waffe hervor, lud sie behutsam, legte sie vorsichtig neben sich nieder. »Tu's rasch«, befahl sie und schloß in letztem Kusse die Arme um seinen Hals.
    Über ihnen rauschten die Bäume, Licht brach in kleinen Flecken durch leichtbewegte Buchenblätter, und weniges sah man vom wolkenlosen Himmel. Der Hand erreichbar lag der Tod, man mußte ihn bloß aufnehmen, jetzt oder in zwei Minuten oder in fünf, man war völlig frei, und der Sommertag war zu Neige, ehe ihn die Sonne verblaßte. In einer einzigen Handbewegung konnte man die Vielheit der Welt erledigen, und Antigonus empfand, daß sich eine neue und wesentliche Spannung zwischen ihm und jenem Komplexe auftat. Der Freiheit eines einigen und einfachen Entschlusses gegenüber wurde auch dessen Willensobjekt zur Einheit, wurde rund und schloß sich in sich, handlich in seiner Totalität wurde es problemlos und ein Wissen der Ganzheit, wartend, daß er es aufnehme oder wegstelle. Eine Struktur absolut ausgehender Ordnung, gelöster Klarheit, höchster Realität ergab sich, und es wurde sehr licht in ihm. Fernab rückte der Totaleindruck der Welt, und mit ihm versank das Gesicht des Mädchens unter ihm, doch verschwanden sie keineswegs völlig; vielmehr fühlte er sich jener Weltlichkeit und dem Weibe intensiver gegeben und verknüpft denn je, erkannte sie weit über jede Lust hinaus. Sterne kreisten über dem Erleben, und durch den Fixsternhimmel hindurch sah er Welten neuer Zentralsonnen im Gesetze seines Wissens kreisen. Sein Wissen war nicht mehr im Denken des Kopfes; erst glaubte er die Erleuchtung im Herzen zu fühlen, aber sie dehnte sich, sein Ich mitweitend, über ihn hinaus, floß zu den Sternen und wieder zurück, erglühte in ihm und kühlte in sehr wundersamer Milde, öffnete sich und wurde zu unendlichem Kusse, empfangen von den Lippen der Frau, die er als Teil seiner selbst und doch schwebend in maßloser Entfernung erfaßte und erkannte. Denn das Ziel des Eros ist das Absolute, das erreicht wird, wenn das Ich seine brückenlose, hoffnungslose Einsamkeit und Idealität, über sich und seine Erdgebundenheit hinauswachsend, dennoch durchbricht, sich abscheidet und im Ewigen Zeit und Raum hinter sich lassend die Freiheit an sich erwirbt. Im Unendlichen sich treffend, gleich der Geraden, die sich zu ewigem Kreise schließt, vereinigte sich die Erkenntnis des Antigonus: »Ich bin das All« mit der des Weibes: »Ich gehe im All auf« zu letztem Lebenssinn. Denn für Philaminthen, im Moose ruhend, erhob sich das Antlitz des Mannes zu immer weitern Fernen und drang dennoch immer tiefer in ihre Seele, verschmolz mit dem Rauschen des Waldes und dem Knistern des Holzes, mit dem Summen der Mücken und dem Pfiff der Lokomotive zu einem rührenden und beseligenden Schmerze der vollkommenen Geheimnisenthüllung eines empfangenden und gebärenden Wissen des Lebens. Und während sie die Grenzenlosigkeit ihres wachsenden und erkennenden Fühlens entzückte, war ihre letzte Angst, solches nicht festhalten zu können: geschlossenen Auges sah sie vor sich, vom Rauschen und von Sternen umgeben, das Haupt des Antigonus, und ihn lächelnd von sich haltend, traf sie sein Herz, dessen Blut sich mit ihrer Schläfe vermischte. – – Es ist der anmaßende Irrtum der Naturalisten, daß sie den Menschen aus Milieu, Stimmung, Psychologie und ähnlichen Ingredenzien eindeutig determinieren zu können vermeinen. Wir wollen uns hier mit der materialistischen Beschränktheit nicht auseinandersetzen und bloß anmerken, daß der Weg Philaminthens und Antigonus wohl zur Ekstase hätte führen können, um in ihr den unendlich fernen Punkt eines außerhalb der Leiblichkeit und doch in ihr eingeschlossenen Liebeszieles zu finden. Da aber, wie gesagt, das Menschliche keineswegs eindeutig ist, so ist immerhin auch anzunehmen möglich, daß der Weg vom Schäbigen ins Ewige für Antigonus und Philaminthe vorzeitig abgebrochen worden wäre. Wenn auch die Todesbereitschaft als solche eine gewisse Katharsis bildet, deren logische Lösung und Folge als eine kleine spießbürgerliche Befreiung ihrer armen Seelen zu denken ist, als eine Festigung der Seinsanschauung aus Labilität ihrer kleinen Qual, so wäre, nachdem sich die Dinge zwischen den Gebüschen eben bloß in gewohnt plumper Ungelenkheit vollzogen hätten, nichts andres übrig geblieben als das soi disant natürliche Ende. Spät abends hätten dann Antigonus und Philaminthe den letzten Zug erreicht, um einem Brautpaare schon gleich in einem Wagen erster Klasse, Hand in Hand, der Heimat zuzueilen. Würden Hand in Hand vor die ängstlich harrende und erschreckte Mutter hintreten, und pathetischen Gestus des Nachmittages beibehaltend kniet der Pensionsfähige auf dem grünlich schimmernden Linoleumboden nieder, den mütterlichen Segen zu empfangen.
    Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit, die noch durchaus nicht Eindeutigkeit sein muß, die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir haben uns nichts vorgeflunkert, haben unsre Geschichte nach ihren Möglichkeiten hin durchdacht und darnach gemeinsam konstruiert. Wir wollen uns gegenseitig nichts vormachen, wir wollen uns aber auch nicht verhehlen, daß unsre Geschichte sehr schön ist.


Von der geistigen Ernährung durch Intuition
Die Intuition ist eine auf allen Wiesen wachsende Wunderpflanze, deren Alter bis in die Zeit Platons nachgewiesen ist, aber wahrscheinlich viel weiter zurückreicht. Die in Deutschland häufigste Varietät wächst aber nicht auf den Wiesen, sondern ist nachgewiesenermaßen stets nur auf dem eigenen Mist derer gewachsen, die sie gebrauchen. Sie wird langsam zwischen den Zähnen gefletschert und verleiht dann wunderbare Erkenntnisse, wie wir sie bei Spengler oder in der Mechanik der Zeit von Rathenau finden. Sie kann aber auch hastig hinuntergeschlungen werden, wie es der Expressionismus tut, und dann erzeugt sie erhebende Blähungen, die in Form von Gedichten, Gottesanrufungen, geistigen Explosionen und sonstigen Ohmenschlichkeiten abgehen. Bei ganz senilen Leuten, wie dem einst verdienstlichen Schleich, wird sie zu einem Brei erweicht, nach dessen Genuß die Seele aussieht wie der Garten einer Kriegsgewinnlervilla, in dem der rauhen Natur durch Gnomen aus Terrakotta und Elfen aus Biskuitmasse eine Ahnung von Höherem verliehen ist. Das charakteristischste Symptom fortgesetzten Intuitionsgenusses ist eine sich bei jeder Gelegenheit zeigende Abneigung gegen den Verstand von geradezu verheerenden Folgen, so daß heute in Deutschland trotz des eigentlich endemischen Charakters der Erscheinungen von einer Intuitionsepidemie gesprochen werden kann. Es steht heute so damit, daß jeder, der etwas behaupten will, das er weder beweisen kann, noch zu Ende gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. Es wäre daher zu beantragen, daß sich alle deutschen Schriftsteller durch zwei Jahre dieses Worts enthalten mögen, wonach sie zum erstenmal ihr wahres Gesicht sehen würden, wie einer, der einen zeitlebens getragenen Bart abrasiert.
    Was die verschiedenen Varietäten der Intuition betrifft, wird ganz übersehen, daß ihre Stammform auch auf rein rationalem Boden gedeiht. Der entscheidende Einfall, mag er noch so methodisch vorbereitet worden sein, springt auch beim wissenschaftlichen Denken wie von außen unerwartet vor das Bewußtsein. Ebenso wird durch erhöhte Gemütszustände auch das rein rationale Denken, das mit Gefühl scheinbar gar nichts zu tun hat, mächtig gefördert. Wie viel mehr jenes, das in einer anderen biologischen Abhandlung dieses Buches das nicht-ratioïde Denken genannt worden ist, dessen Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindigkeit geradezu von der Vitalität der Worte abhängt, einer um den relativ belanglosen Begriffskern gelagerten Wolke von Gedanke und Gefühl. Dann erst denke man an jene Erkenntnisse, die »mit einem Schlage das Leben erhellen« – Paradefälle der Intuition; man wird dann auch da sehen, daß es sich nicht um eine plötzlich ausbrechende andere Art Geistestätigkeit handelt, sondern um einen allmählich gewordenen kritischen Zustand der Gesamtperson, der endlich umschlägt, wobei der aktuelle, vermeintlich zündende Gedanke gewöhnlich nur der Explosionsblitz ist, der die große Umreaktion begleitet. »Etwas, das sich nicht erkennen, beschreiben, definieren, nur fühlen und innerlich erleben läßt, das man entweder niemals begreift oder dessen man völlig gewiß ist« – »mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist, das in seinen höchsten Momenten sich selten genug einstellt« – werden solche Erlebnisse gewöhnlich beschrieben. Das ist aber nur ein Grad auf der großen Skala, die von da über den Zustand des Gläubigen, des Liebenden, des Ethischen zur Haplosis, zur visio beata und den anderen großen Formen der Weltempfängnis führt; mit einem sehr bemerkenswerten Nebenast im Pathologischen, der von der verbreiteten Zyklothymia bis zu schweren Wahnzuständen reicht.
     Man wirft ein, daß die Analyse der psychologischen Form menschlich nicht interessiere, sondern nur die Synthese der in ihr gewonnenen Inhalte. Die Welt, in der wir leben und gewöhnlich mitagieren, diese Welt autorisierter Verstandes- und Seelenzustände, ist nur der Notersatz für eine andere, zu der die wahre Beziehung abhanden gekommen ist. Zuweilen fühlt man, daß von all dem nichts wesentlich ist, für Stunden oder Tage zerschmilzt es in der Glut eines anderen Verhaltens zu Welt und Mensch. Man ist Strohhalm und Atem und die Welt die zitternde Kugel. In jedem Augenblick erstehen alle Dinge neu; sie als feste Gegebenheiten zu betrachten, erkennt man als inneren Tod. Das Pferd vor dem Wagen und der Vorübergehende kommunizieren. Oder wenigstens Mensch und Mensch messen sich nicht, beschnüffeln einander nicht wie Kundschafter, sondern wissen voneinander wie Hand und Bein an einem Körper. Das ist die Stimmung philosophisch schöpferischer – oder aber auch philosophisch eklektischer Zustände. Man kann sie intellektuell als verspäteter Christ auslegen oder das Fließen des Heraklit an ihr demonstrieren, überhaupt allerlei heraus- und hineinlesen, unter anderem auch ein ganz neues Ethos. Glauben wir daran? Nein. Wir spielen damit Literatur. Galvanisieren Buddho, Christus und andere Ungenauigkeiten. Ringsum tobt die Vernunft in tausenden von PS. Man trotzt ihr und behauptet, in einem verschlossenen Kästchen eine andere Autorität zu haben. Das ist der Sammelkasten Intuition. Man öffne ihn endlich und sehe, was darin ist. Man wird auf der einen Seite die große Gruppe der religiösen Erlebnisse finden, die sich nach der Durchdringung mit dem Verstand sehnen, auf der anderen das Ressentiment von Literaten, welche das bezweifeln, was der Verstand wirklich leisten kann, dagegen unerhört gläubig gegen alles sind, was ihnen gerade einfällt.


Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur
Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Zivilisation und Kultur unterscheide und welche höher stehe. Ich glaube, wenn man unterscheiden will, ist es am besten, Kultur dort zu sagen, wo eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur voraufgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist ausgezeichnet durch die bekannte technische Beherrschung der Natur und ein sehr kompliziertes, sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes System sozialer Beziehungen.
    Es sind alle Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen und Gesellschaften entstanden und haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt an und für sich eine Verdünnungs- und Erschöpfungstendenz; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch Generationen. Ideen lassen sich nicht übergeben wie Wissen; sie erfordern gleichen seelischen Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche seelische Disposition vorhanden: so sind sie ständig der Veränderung unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht bereichert, später korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und Lebensformen; aber eine Idee verwirklichen, heißt sie schon teilweise zerstören. Alle Verwirklichungen sind Zerrbilder, und in höherem Alter werden sie immer leerer und unverständlicher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo; so ragen immer die Formen einer älteren Schicht in die Ideen einer neuen herein und konkurrieren mit ihnen an Einfluß. Die Entwicklung selbst ist nichts, das sich in einer einheitlichen Linie auswirkt. Mit der natürlichen Abschwächung, welche die Idee durch ihre Ausbreitung erleidet, kreuzen sich Einflüsse aus neuen Ideenquellen. Der innerste Lebenskern jeder Zeit, eine neblige, quellende Masse, ist eingebettet in Formen, die der Niederschlag viel älterer Zeiten sind. Jede Gegenwart ist gleichzeitig schon hier und noch um Jahrtausende zurück. Dieser Wurm bewegt sich auf politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, biologischen und unbegrenzt viel anderen Gliedern, deren jedes ein anderes Tempo hat und einen anderen Rhythmus. Das ist ein Teil der Gründe, warum späte Zeiten so uneinheitlich sind und in solchen Zivilisationszeiten die Kulturen zerfallen wie Gebirge.
    Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbarere Beziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksalhafter Sicherheit der menschlichen Haltung und noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion, andererseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel. Die aber nur das an ihm sehn, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich sehr ungöttlich ist.
    Wie bereits gesagt, muß man das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation ansehn. Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andere Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Zivilisationshöhepunkt vor dem Krieg: Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles zusammen völlig unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und noch schwarzem Land größer als der zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in die Voraussetzungen eines anderen Gedankenkreises einzudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind 98 v.H. aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für alle heute lebenden Tiere. Wird sie nicht gelöst, so sind alle anderen Anstrengungen vergeblich, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß sie überhaupt wirken können.


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