Fernando Pessoa: (Por entre a casaria)
Montags=Text
Fernando Pessoa
übersetzt von Werner Wanitschek
Por entre a casaria
Mitten zwischen den Häusern, unter wechselndem Einschieben
von Licht und Schatten – oder vielmehr von Licht und weniger Licht –, geht über
der Stadt der Morgen auf. Es scheint als ginge er nicht von der Sonne aus,
sondern von der Stadt und als löste sich das Licht oben von den Mauern und den
Dächern – von ihnen nicht physisch, sondern von ihnen weil sie da sind.
Ich empfinde, indem ich ihn empfinde, eine große Hoffnung;
doch gestehe ich ein, daß die Hoffnung anstudiert ist. Morgen, Frühling,
Hoffnung – sie sind bei Musik durch die gleiche melodische Absicht verbunden;
sie sind in der Seele durch die gleiche Erinnerung an eine gleiche Absicht
verbunden. Nein: wenn ich mich selbst beobachte, wie ich die Stadt beobachte,
muß ich eingestehen, was ich zu hoffen habe ist, daß dieser Tag wie alle Tage
zu Ende geht. Die Vernunft sieht auch das Morgenrot. Die Hoffnung, die ich in
es setzte, wenn es sie gab, war nicht meine: es war die der Menschen, die die
vorübergehende Stunde leben, und deren äußeres Verständnis ich unwillkürlich in
diesem Augenblick verkörpert habe.
Hoffen? Was habe ich zu hoffen? Der Tag verspricht mir
nichts anderes als den Tag, und ich weiß, daß er einen Verlauf und ein Ende
hat. Das Licht belebt mich, doch macht es für mich nichts besser, da ich von
hier weggehe, wie ich hierher gekommen bin – an Stunden älter, eine Empfindung
fröhlicher, einen Gedanken trauriger. In dem was entsteht können wir ebenso was
entsteht fühlen wie was sterben soll denken. Jetzt, beim weiten und hohen
Licht, ist die Landschaft der Stadt wie die eines Häuserfeldes – sie ist
natürlich, sie ist ausgedehnt, sie ist geordnet. Doch kann ich, noch beim Sehen
von all dem, vergessen, daß ich existiere? Mein Bewußtsein von der Stadt ist,
im Innern, mein Bewußtsein von mir.
Ich erinnere mich plötzlich daran, wie ich als Kind den
Morgen über der Stadt heraufdämmern sah – wie ich ihn heute nicht sehen kann.
Damals dämmerte er nicht für mich, sondern für das Leben herauf, denn da war
ich (weil noch ohne Bewußtheit) das Leben. Ich sah den Morgen und empfand
Freude; heute sehe ich den Morgen und empfinde Freude, und werde traurig … Das
Kind ist geblieben, doch ist es verstummt. Ich sehe wie ich sah, doch hinter
den Augen sehe ich mich als Sehenden; und allein dadurch verdunkelt sich mir
die Sonne und ist das Grün der Bäume alt und welken die Blumen bevor man sie
sieht. Ja, einst war ich von hier; heute kehre ich zu jeder Landschaft, so neu
sie für mich auch sei, als Fremder zurück, Gast und Pilger ihrer Vorstellung,
ein Fremder des von mir Gesehenen und Gehörten, alt von mir.
Ich habe schon alles gesehen, auch wenn ich es nie gesehen
habe, noch sehen werde. In meinem Blut fließt selbst die geringste der
zukünftigen Landschaften, und die Furcht vor dem, was ich erneut sehen muß, ist
für mich eine vorweggenommene Monotonie.
Und, den Tag genießend, aus dem Fenster gelehnt, über dem
mannigfaltigen Raum der gesamten Stadt, erfüllt nur ein Gedanke meine Seele –
der innige Wunsch zu sterben, zu enden, kein Licht mehr über irgendeiner Stadt
zu sehen, nicht zu denken, nicht zu fühlen, den Lauf der Sonne und der Tage wie
Packpapier zurückzulassen, die unfreiwillige Anstrengung des Daseins wie ein
schweres Gewand am Rand des großen Bettes auszuziehen.