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Durs Grünbein: Zündkerzen

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Timo Brandt


Bitterkeit und Sanftheit


„Das Gehirn ist kein Bunker, aber draußen herrscht Krieg
Um alles, was maßlos ist: Glaube, Geschlechterglück, Geld.
Das Hirn gibt nie Ruhe, es protestiert, prozessiert immerfort.“


Eigentlich dachte ich nicht, dass ich dem Verriss von Stefan Schmitzer auf fixpoetry.com noch viel hinzuzufügen hätte. Das klang alles sehr schlüssig, reflektiert, vernichtend; der Text schien auf den Punkt zu bringen, warum man Durs Grünbein einfach nicht mehr ernst nehmen kann, warum er ein Relikt ist. Eine Meinung, die ja auch in der letzten Dekade gehegt und gepflegt wurde. Oder eigentlich schon seit „Nach den Satiren“ (1999), ein Band, den auch ich einst frustriert in die Ecke pfefferte – nachdem ich die ersten drei Gedichtbände noch gefeiert, beinahe geliebt hatte (nie vergessen werde ich die Stunden, die ich über „Falten und Fallen“ verbrachte) – und seitdem habe ich nie wieder wirklich einen Grünbein-Gedichtband angerührt.

Nachdem Fritz J. Raddatz den letzten, „Koloss im Nebel“ (2012), dann bei der WELT fachgerecht zerhackte und Grünbein selbst als große „Luftnummer“ bezeichnete, ihm klipp und klar den Dichterposten absprach, weil in seinem erhabenen Ton einfach der Inhalt fehle, fühlte ich mich in meiner Abkehr bestätigt, die Schmitzer noch einmal zu untermauern schien. Wie schockiert war ich nun, als ich doch einen Blick in den Band warf. Ging es Schmitzer nur um die Provokation? Hoffentlich, denn ansonsten ist da viel unter den Tisch gefallen.


Ich will diese Rezension nicht auf dem Rücken einer anderen Meinung aufbauen, mich nicht erheben und meine Betrach-tung durch Tadel an einer anderen aufwerten (wobei meiner Ansicht nach etwas sehr Ähnliches in Schmitzers Rezension geschieht: da erhebt sich der Rezensent, der es als Kritiker immer leichter hat, mit einer (mir nun rasch-geschrieben erscheinenden) sehr einseitig gewichteten Kritik über einen Dichter, den eh die meisten schon auf dem Kieker haben).
    Aber trotzdem verstehe ich nicht, wie Schmitzer, nachdem er seine berechtigte kritische Haltung gegenüber Grünbeins Gedicht „Die Ausgeschlossenen“ vorgebracht hat, ihm im Folgenden vorwirft, er sehe die Welt genauso, wie sein lyrisches Ich und habe sich in einem bequemen Standpunkt eingerichtet, von dem aus er einfach seine Poesie durchziehe, unreflektiert. Hat Schmitzer ein Gedicht wie das folgende etwa übersehen, gar nicht gelesen:

„Aufgepasst! Wir verschärfen jetzt das Gedicht.
Alles, was Sie schreiben, kann gegen Sie verwendet werden,
Alles, was Sie nicht schreiben, auch. Es gehört nicht hierher,
Gerade darum muss es hinein. Oder gibt es etwas,

Das mit Rücksicht auf das Gedicht besser ungesagt bleibt?
Warum ist Lügen politisch? (Keine Politik ohne Lügen)
Wie kam die Lüge in die Welt – durch die Hintertür?

Was unterscheidet Poesie von Public Relations?
War die Gesellschaft nicht offen? So offen, das viele
Von nun an draußen blieben, hinter der gläsernen Wand.

Es gibt so viele Formen der Freiheit, schloss der Philosoph,
Dass sie einander blockieren. Daraus wird kein Lied.
Schon gingen sie weiter, die dreckigen Todesgeschäfte.
Vergiss es, sie wurden nie ausgesetzt, kleiner Prinz.“


Schmitzers Fazit ist dann:

„Das Problem ist, mit einem Wort, dass die gefeiertsten (und gelegentlich tatsächlich guten) Hervorbringungen unserer Gegenwartslyrik an eine allerunbedarfteste Schar wohllebiger Spießer gerichtet erscheint, die man selbst, wenn sie sich redlich bemühen, mit der Nase drauf stoßen muss, welcher Art die Welt rundherum ist.“

„Man selbst“ ist natürlich der Rezensent … der vergisst, dass man, nur weil man sich im Besitz einer Wahrheit wähnt, nicht alles so drehen kann, dass es dieser Wahrheit widerspricht, entgegensteht und vor ihr dumm aussieht.

Nun liegt es mir fern, ins radikale Gegenteil überzugehen und Durs Grünbein über die Maßen zu loben. Ich teile einige Bedenken, die Schmitzer anspricht. Und Grünbeins Romfimmel, seine Casanova-Anwandlungen und die Geschwätzigkeit seiner längeren Texte gehen mir mitunter gehörig auf die Nerven. Ich verstehe auch, dass Grünbein dem harten Kern der progressiven Lyriker*innen als nicht mehr zeitgemäß erscheinen mag. Seine Vergleiche wirken nicht selten abgegriffen und die Vielzahl seiner Behauptungssätze schmeckt hier und da schwer nach Old-White-Mansplaining. Als ich mit einem Freund vor drei Jahren über meine frühe Grünbein-Begeisterung sprach, verzog er das Gesicht und sagte nur: „Der Durs? Der ist mir viel zu penetrant.“ Und auch das konnte ich sofort verstehen.

„Suche Bedienungsanleitung für Seelen älterer Bauart,
Mystiker-Seelen, Seelen mit niedriger Seriennummer.“


Was ich aber nicht verstehen kann, ist ein generelles Abkanzeln, das ignoriert, dass es noch einiges gibt, was erwähnenswert wäre oder sogar verdienstvoll ist. Eine Entschuldigung für Ignoranz muss noch erfunden werden. Grünbein ist kein Lyrikgott, vollkommen richtig, vergessen wir die olympischen Kategorien, aber er ist auch keine Witzfigur oder ein Ekelpaket.

Was er zu allererst ist: ein Nostalgiker, einer, der das Aroma der Vergangenheit begehrt, der historischen, wie auch der eigenen. Es gibt zahlreiche Gedichte in „Zündkerzen“, die von Augenblicken ausgehen, durch die, angeregt durch ein Detail oder einen großen Zusammenhang, das ganze Vergehen der Zeit fällt, sich quetscht oder schlängelt. Das kann der Anblick von Spatzen sein, die sich in einer Pfütze auf dem Gehweg tummeln und die Gedanken an das eigene Tummeln als Kind wachrufen oder die Erinnerung an das Stehen in einer starken Meeresbrandung, zusammen mit einem vertrauten Menschen. Und vieles andere.


„Gigantische Agenda, dieses Leben –
Das so ganz anders kam und dann doch so.
Wir sehen uns, wenn wir die Augen schließen,
In einem Fahrstuhl, der die Jahre wie Etagen zählt.
[…]
Was für flüchtige Existenzen wir sind. Nach uns
Sind die Stätten unseres Auftritts sofort wieder leer,
Als hätten wir nie gelebt.
[…]
Manchmal genügt ein Schlüsselbein,
Der Sturz in ein Augenpaar –
Und Schmerz flammt auf
Über allen Verzicht und Verlust
In einem Menschenleben.
[…]
Wie tief ein Gedanke auch war,
Wir hielten uns an sein Volumen.“


Nicht viel Neues darunter, das ist wahr, Innovationen sucht man zumeist vergebens. Es ist die Beschaulichkeit, das Unspektakuläre, das in Grünbeins Gedichten die Hauptrolle spielt. Doch im Beschaulichen findet er auch immer wieder das Alarmierende und Hintersinnige, das Vergessene und Zweischneidige. Es mag abgehoben wirken, dass er diese Dinge nicht klar hervorhebt, sprachlich durchleuchtet oder lautstark für sie streitet. Gesetzt ist seine Sprache, fast kalt. Aber ehrlich gesagt, erscheint sie mir dadurch sogar weniger abgehoben als die einiger Dichter*innen progressiverer Werke. Manchmal ist seine Haltung wie Noblesse und zum Fürchten – aber manchmal wird in dieser Haltung etwas so gekonnt aufs Alltägliche heruntergebrochen, dass es unmittelbar wirkt, nicht verkopft oder durchdekliniert, sondern der eigenen Erfahrung nah.

„Schön ist hier vieles, manches christlich brutal,
Neben dem Müllcontainer der weiße Marmorfuß.
Touristen und Flüchtlinge, es wächst ihre Zahl.
War ein Zeichen der Krise nicht – Überfluss?“


Streifende Betrachtungen wie diese wirken auf den ersten Blick verkürzt, unbeteiligt, abgehoben, spießig, nicht reflektiert genug. Aber sind sie das wirklich? Sind sie nicht eine schleichende Diagnose, die einfach Raum für ihre Ausdeutung lässt? Ich bin auch der Meinung, dass die Formulierung „putzten/ die weißen Zähne in den dunklen Gesichtern“ aus dem Gedicht „Die Ausgeschlossenen“ unangemessen ist, unnötig und an rassistische Karikaturen erinnert. Deswegen ist die „Die Ausgeschlossenen“ aber noch lange kein rassistisches Gedicht und Grünbein noch lange kein Dichter, dem ein Bewusstsein für die Lage der Geflüchteten oder der Gegenwart allgemein fehlt. Dass er diese Lage nicht nur dokumentiert, sondern sich darüber vielfältige Gedanken macht, beweisen andere Gedichte:

„Wir öffnen die Augen, blicken in eine Welt aus Geräten,
Die perfekt ist, beinah. Nur Frömmler nennen sie inhuman.
Lächelnde Buddhas, wischen wir über die neuen Displays
Und wissen, wir wissen es: Glück ist das Funktionieren.
[…]
„Wie reibungslos alles abläuft.
Wie friedvoll das aussieht, wie zivilisiert.
Es gibt den Überfluss und die Bürokratie.
Es gibt den Beton und die Bananen,
Die stille Panik der Tiere auf dem Transport
Und das Stechen im Magen.

Sieht so der Tod aus, den man nicht sieht.
[…]
Revolutionen zogen wie Wolkenmassen vorüber.
Wer sagt, dass es immer so weitergeht wie geplant?
Demagogen im Fernsehen, sie sprachen zum Volk
In einer schamlosen Sprache der Desinformation.
Das war sie, die Versteigerung ganzer Nationen.“


Und manchmal bringt er Dynamiken sehr gut auf den Punkt, zum Beispiel wenn er sagt:

„Es sind die Gewohnheiten, die uns töten.“


Mal stellt Grünbein der menschlichen Perspektive das Leben an die Seite, mal den Kosmos. Zwischen diesen beiden Dimensionen tut sich eine Kluft auf, ein ewiges Dilemma; das Dilemma des zum Denken fähigen, sterblichen Primaten, der sich Geschichten über sich selbst erzählt, weil das die einzige Hoffnung auf etwas Dauerhaftes, vielleicht sogar Unsterbliches, ist. Und worum geht es in den Geschichten: Um alles Lebendige, aber auch um seine Angst vor dem Verlust, vor dem Ende, dem Tod.

Und was vermag Sprache? Grünbein ist sie Instrument und Fluch zugleich. Er kann mit ihr brillieren, aber man spürt, dass eigentlich alles, was er zu schreiben vermag, ein Ruf ist, der im Fallen ausgestoßen wird. Sprache ist die Hoffnung, aber ihr fehlt das Erfolgserlebnis, das die Hoffnung bestätigt – sie bringt nur Erfolge ein, die die Hoffnung weiter anstacheln.

„Der sichtbaren Welt verhaftet,
Wie weit kann Sprache dich tragen
In das Reich der Bilder hinter Bildern,
In eine Sphäre jenseits der Piktogramme
Von Werbung und Wunsch und Wahn?
[…]
Das war es, was so schwer zu begreifen war:
Dass alles nur einmal geschah – und kühl
Vorbeistrich an dem, der nach Worten suchte,
Wo immer er ging, flüchtig zu Besuch.

Wie groß das Alltägliche war, wie ungeheuer
Trivial entlang der ausgetretenen Wege.
Sieh, das Geringste wird ruhlos erneuert.
Zerstörung, die auch in dir sich regt.“
[…]
Was weiß denn ich, ein Zaungast der Geschichte,
Der, was er sieht, meist rasch vergisst, nur Schreie speichert.
[…]
Wer weiß, ob nicht überflüssige Dinge
Den Menschen selbst überflüssig machen?“


Grünbein kreist und kreist – und er wiederholt sich dabei. Er kreist um die Dilemmata, die großen und die kleinen, mal nur als Instanz, mal als involvierte Wesenheit, unsicher und unverlässlich, vage und vakant, hier und da subtil, manchmal sogar komisch, manchmal um falsche Demut und Besonnenheit nicht verlegen, die unschön sind, aber auch in Teilen einfach menschlich. Und dieses Menschliche scheut er nicht, und das ist, finde ich, schon irgendwie schön, schon irgendwie gut.


„Poesie war ein festes Depot, Sammelstelle für jederlei
Aufruhr im Goldfischglas.
                                            Wer hat dich gefragt?
Politik ist der Wetterbericht, der den meisten missfällt.
Mit diesem Vers wirst du dich schnell isolieren.“


„Zündkerzen“ ist ein Buch, in dem es viel zu entdecken gibt, nicht nur Piniengedichte und Gründe sich aufzuregen. Das Problematische soll dabei nicht unter den Teppich gekehrt und auch die gähnende Langweile bei manchem Gedicht soll nicht verschwiegen werden. Aber da bleibt noch eine Menge übrig, versprochen! Als letztes Beispiel noch, um die vielschichtigen Ansätze von Grünbein zu unterstreichen, ein Zitat aus dem Gedicht „Weiße Verben“:

Schneien ist eins dieser Verben, gefrieren.
Altern ein anderes, verzagen, entschlafen.
Sie können die Knoten der Weisheit durschlagen.
Es gibt sie als wandernde blinde Flecke.
Es gibt sie am Rand aller Psychen.“



Durs Grünbein: Zündkerzen. Gedichte. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2017. 152 Seiten. 24,00 Euro.

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