Direkt zum Seiteninhalt

Doppelbesprechung Ricarda Kiel: Kommt her ihr Heinis ... & Slata Roschal: Wir verzichten ...

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Fabian Widerna

„Tatsachen auf“ mehr oder minder „leise Filzfüße“ gestellt


Die beiden im Frühjahr (Kiel) und Sommer (Roschal) 2019 publizierten Debuts könnten, nach der ersten Lektüre, mindestens, unterschiedlicher kaum sein. Dabei ließe sich nicht einmal behaupten, dass es an der Qualität der Verhältnisse zwischen Innen und Außen läge, die durch die lyrischen Ichs zum Vorschein kommen. Unzweifelhaft haftet den Texten Roschals, wie bereits Jan Kuhlbrodt in der ersten Rezension zu ihrem kürzlich erschienen Band Wir verzichten auf das gelobte Land, etwas Klaustrophobisches an, ein unhintergehbares Eingeschriebensein von Ferne und Distanz zu allem, allerdings eher als Setzung einer Innen-Außen-Differenz, denn als bloße Abqualifizierung des Landschaftlichen als Spiegel einer lyrischen Innerlichkeit, die sich nicht selbst genug sein mag – dafür ist das lyrische Ich, salopp, zu viel unterwegs. Eher dient im Sinne des Wortbestandteils claustrum (lat. Barriere, Riegel, Schloss, Hindernis) die häufig dezidierte Differenz zwischen den mal auf unmittelbare Körperlichkeit, mal auf die nähere Umgebung einer bestimmten Raumkonfiguration zurückgezogenen Innenräumen zur städtischen und/oder landschaftlichen Umwelt als Markierung einer gewissen Uneinholbarkeit – des Sozialen wie der Eigenleben der Räume, in denen es sich abspielt, oder von denen es umgeben wird; um in markanter Konsequenz die Uneinholbarkeit der Umwelt auf das Selbst rückzubinden, wie im Gedicht auf Seite 10:

Die Verrätselung der eigenen Person
Begann hinter der Glaswand einer Dusche
In zugewiesener Gemeinschaftsunterkunft
Und endete in einem selbstgenähten Umhang
Und es begann ein seltsames Verleben
Der luftdurchlässige Gardinenstoff
Verblich allmählich ließ die Fäden hängen
Das Fenster blieb mit einer Decke überzogen
Was sollte Zweckentfremdung und was Selbstbehauptung sein
Was Zumutung für die Gesellschaft
Und auf der Straße brachte jemand es zustande
Zwischen der Baumwolle Pupillen zu bemerken
Dabei war es nur ein dunkles Kinderzimmer
Und Aufschrift an der Tür
Für Unbefugte Eintritt verboten

[Sie dürfen in Ausübung Ihres Amtes ihr Gesicht nicht verhüllen
Artikel 4 - Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil I Nr. 36]

Die Landschaften/Umwelten sind nicht ab-, oder als bloße exemplarische Reflexe auf die Stimmungen einer sich selbst bespiegelnden Instanz in das vom lyrischen Ich zum Ausdruck gebrachte Bewusstsein eingeschlossen, verbleiben als Evokationen semantischer Kontingenz, die sich mit keiner einfachen Ursache-Wirkung-Syntagmatik fassen lassen, einerseits, andererseits aber das, quasi, Wort-, Ort-, Raummaterial bereitstellen, anhand dessen die (sich selbst) beobachtende Instanz sich selbst zum kontingenten Objekt im Raum, quasi, stilisiert.

Sprachlich scheuen die Gedichte und mehr oder weniger lyrischen Kurz- oder Kürzestprosatexte dabei nicht davor zurück, die sonst gleichermaßen unprätentiöse wie präzise Haftbarmachung von Alltäglich- und auffallend lakonischen Traumhaftigkeiten für ein permanentes aber dynamisches Herausfallen aus einen oder wahlweise Herausstellen eines nicht hintergehbaren Status quo mit bisweilen etwas störenden Manierismen oder/und Stilblüten zu unter- oder zu durch-brechen, wie etwa in den ersten Zeilen des Gedichts „Ostersonntag“:

Ein leichtes Dasein schwebt mir vor
Als Stillleben mit Kröten und Narzissen
Und dann der Schnee im Fenster gegenüber
Auf Seide eingerahmt zur Schau gestellt      

oder im letzten Gedicht auf Seite 51:

Jeden Advent beschreibe ich mein Klingelschild
Mit einem anderen verhängnisvollen Namen

Insgesamt tut das der durchgehenden und durchdacht arrangierten Qualität des Bands aber keinen Abbruch. Es wird nichts besser, in diesen Gedichten, darauf deutet bereits der Titel hin, aber der signalisierte Verzicht tritt als Entscheidung – vielleicht für ein, jeweils, Hier und Jetzt, das zugunsten jederzeitiger Aktualität (nicht Originalität) des Moments die unvermeidliche Aufschiebung des gelobten Landes durch Verzicht nivelliert und für bedeutungslos erklärt. Schließlich endet selbst der Aufbruch dorthin (Seite 17) in altbekannten Alltäglichkeiten und beinahe mathematischer Hermetik eines Augenblicks:

Hier ist Nicht einsteigen S-Bahn endet hier
Hier ist ein feuchtgewischtes Treppemhaus
Wir stehen hier wie Prädikate zweiter Ordnung

Demgegenüber sind Kiels Gedichte spielerischer, weniger weltgewandt, das heißt viel expliziter auf die Konstitution im weiteren Sinne privater Räum(lichkeit)e(n) ausgerichtet mit einem deutlichen Hang zu surrealen, man könnte sagen, Einhegungen dieser Privatheit, die sich in noch stärkerem Maß als bei Roschal von Realisierungen körpereigen(tlich)er Effekte und Gegebenheiten über die unmittelbareren Umgebungen erstreckt, ohne so sehr den Blick ins weit draußen Liegende zu suchen.
    Man möchte den Texten des schmalen Bands vielleicht auch gerade daher keinerlei ironische Distanz unterstellen – weil sie es nicht nötig haben; eine grundsätzliche, keinesfalls unkritische Lebensfreude spricht aus diesen Gedichten, wie etwa die drei Outfits (für die Postapokalypse; goldenes; für die Zeit im Wald) herausstellen und als einzige vielleicht ein wenn schon hypothetisches und/oder fatalistisches Außen beschwören, dessen Evozierung über die Blickweiten des/der lyrischen Ichs/Wirs hinausreicht.
    Überhaupt geschieht hier sehr vieles im Reflex auf die eigene, sowie auf die umweltlichen Auswirkungen auf eigene Körperlichkeiten und dynamische Übergänge zwischen beiden (Wahrnehmungs-)Sphären, auch mit zeitlicher Perspektivierung. Schon das zweite Gedicht, die handschriftlichen mal mehr mal weniger enigmatisch kommentierenden Zwischentitel, bzw. -schritte,

PUT
PUT PUT
THAT BIRDY DOWN

oder

DUSCHE
DEINEN
WILLEN

nicht mitgerechnet, macht das deutlich:

Ich enthülle
meine Tätowierungen.
Im Nacken ein NEIN,
das sollte mir helfen,
aber ich sehe es nicht.
Über der gesamten Brust
Die sich umarmenden Kummeraffen,
und sollte ich mal Kinder kriegen,
sie werden beim Säugen in ihre
vier Augen schauen.
[…]
Alles bleibt an mir hängen
und trocknet dort.
Auf den Fußrücken
links ICH BIN ALLEINE und
rechts ICH BIN EIN TEIL,
und an der Ferse ein Gewitter,
das mir mal gefallen hat.

Mit wenigen Ausnahmen, dem reigenhaften „Hundert Väter kaufen auf dem Weg ins Büro“ zum Beispiel, bleibt es den Band hindurch bei diesem unprätentiös-selbstbewussten Apologisieren grundsätzlichen, könnte man behaupten, Rechts auf Wohlbefinden, und das ist zusammen mit der spielerisch-schrägen Surrealität vieler Bilder eine der oder vielleicht die eigentliche Stärke dieses Debuts.
    Dabei schwingt hier häufig die durch einzelne Verse markierte Bereitschaft mit, noch jeder Unwägbar- oder -verschämtheit mit Wohlwollen zu begegnen, diese wahlweise nicht zur Kenntnis zu nehmen:

Wenn der Mann im Sumpf heimkommt,
sieht er vor seinem Fenster
eine Pappel, auf die sein Sohn
SCHEISSE gesprüht hat,
macht er ihm und sich
Kaffee.

oder Momente der Scham so offen und unverfänglich zum Ausdruck zu bringen:

Ich schäme mich,
dass ich mich über einen zusätzlichen
Kundenaufkleber freue.

um den Moment gleich darauf wieder in die Beschäftigung mit dem körperlich Eigenen überfließen zu lassen:

Schämend greife ich, den Spiegel meidend,
um die angespannten Stränge meiner Arme.
Ich will Platz machen
für meine Feuchtigkeit,
ihr ein Lied singend
den Schweiß begrüßen
ihm die schweren Tropfenhände schütteln.

und dem körperlichen Eigenleben über eine ambivalente Erotisierung wiederum des Moments hinaus Identität und Subjektivität zu verpassen.
    Oder im mit den Zeilen

Und einmal schwankt der Döner
auf dem Rücksitz

beginnenden Gedicht anhand alternativer biographischer Orte

und einmal bin ich in Hotels aufgewachsen
[…]
und einmal bin ich im Vorort aufgewachsen
[…]
und einmal bin ich hinter dem Hoftor groß geworden

mitunter die Möglichkeiten des Körpers und im Umgang damit in gewohnt spielerischer Weise zu deklinieren.
    Alles in allem lässt sich, um das Dictum Jan Kuhlbrodts in abgewandelter Form aufzunehmen, festhalten: Diese Bände bestehen aus starken Texten. „Unbedingt lesen!“


Ricarda Kiel: Kommt her ihr Heinis ich will euch trösten. München (Hochroth) 2019. 50 S. 8,00 Euro.

Slata Roschal: Wir verzichten auf das gelobte Land. Leipzig (Reinecke & Voß) 2019. 60 S. 10,00 Euro.
Zurück zum Seiteninhalt