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Daniel Falb: Anthropozän

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Mario Osterland

Ausgraben, umschichten, neudichten

Daniel Falb über das Anthropozän und Anthropozändichtung



„Homo sapiens, dessen Population seit 1800 von etwa 1 Milliarde auf über 7 Milliarden angewachsen ist, modifiziert heute mehr als die Hälfte der kontinentalen Erdoberfläche durch Agrikultur und Urbanisierung, bewegt jährlich mehr physische Materialien über die Erdoberfläche als alle non-anthropogenen Prozesse auf der Erde zusammen, macht mit seinen Nutz- und Haustieren über 97% der Biomasse aller terrestrischen Wirbeltiere und Vögel aus, produziert ein Klima, wie es auf der Erde seit dem Tertiär nicht mehr geherrscht hat und ist dabei, das sechste Massenaussterben von Arten in der Erdgeschichte herbeizuführen.“

Mag sein, dass die meisten Menschen heutzutage wissen, wie stark sich ihr Einfluss oder zumindest der Einfluss ihrer Spezies auf das ökologische Gleichgewicht des Planeten auswirkt. Doch es ist zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der Menschen schon einmal darüber nachgedacht hat, dass sie jetzt, in dieser Zeit, in der sie lebt, dazu beiträgt, Erdgeschichte zu schreiben.

Geht es nach dem niederländischen Meteorologen und Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen, tun wir aber genau das. Gemeinsam mit Eugene F. Stoermer veröffentlichte er im Jahr 2000 einen Essay, der in der Wissenschaftswelt für großes Aufsehen sorgte. Aufgrund der oben genannten Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte kamen die beiden zu der Erkenntnis, dass die Erde sich nicht mehr im Holozän befindet, sondern in ein neues geologisches Zeitalter eingetreten ist: das Anthropozän.

Seitdem wird der Begriff über die Grenzen der Geowissenschaften hinaus kontrovers diskutiert und hat bislang noch keine allgemeine Akzeptanz gefunden. Vielleicht mag das auch daran liegen, dass seine eigenen Vertreter mitunter etwas ungeschickt mit ihm umgehen. Wie etwa der Geologe Jan Zalasiewicz, der in seinem Buch The Earth After Us – What Legacy Will Humans Leave in the Rocks? auf eine fiktionale Prothese angewiesen ist, um von der Idee des Anthropozäns zu erzählen. Denn geologisch betrachtet setzt das Sprechen über ein Erdzeitalter ein Stratum voraus, also laut Wikipedia „eine in sich geschlossene, im Regelfall unregelmäßig horizontal verlaufende Kulturschicht“. Ein Paradox, auf das Daniel Falb in seinem Essay gleich zu Beginn hinweist. Denn wer will über das Zeitalter und Erbe der Menschheit urteilen, wenn es vorbei sein wird und wir nicht mehr da sind? Bei Zalasiewicz sind es Aliens, was bedeutet, dass die Grenze zwischen Science und Fiction hinsichtlich des Anthropozäns wohl besonders durchlässig sein muss.

Dass Falb sich im Rahmen der Edition Poeticon des Verlagshauses Berlin mit dem Begriff des Anthropozäns auseinandersetzt, scheint zunächst etwas merkwürdig. Was haben Reflexionen über geologische Prozesse und deren wissenschaftliche Aufarbeitung mit Poetologie zu tun? In sechs recht normativ daherkommenden Textboxen, die Falb an den Rändern seines Essay wie Pop-ups aufploppen lässt, kommt es zu einer schrittweisen Annäherung. Grundlage dafür ist unter anderem der Gedanke, dass Dichtung ebenso „zur Ordnung der Simulation“ gehört, wie eine vollständig sedimentierte Menschheit, die in fernster Zukunft von Alien-Geologen ausgegraben und mit Werturteilen bedacht wird.

Allerdings geht es Falb nicht um eine Dichtung, die die gegenwärtigen ökologischen Veränderungen der Erde zum Thema hat; die aufgrund von Klimawandel, Ressourcenausbeutung und Artensterben apokalyptische Szenarien heraufbeschwört und so ihrerseits zu wie auch immer gearteten Werturteilen kommt. Gleichwohl sieht Falb unter anderem in der „anachronistischen Ökolyrik“ der 1970er Jahre einen Teil der Genealogie der Dichtung im Anthropozän. Ihr widmet er ein ganzes Kapitel seines Essays, in dem er beispielsweise die US-amerikanische Ecopoetry von einer möglichen Anthropozändichtung scheidet, die nach Falbs Einschätzungen erst „noch zu schreiben“ ist.

Doch wie soll diese Dichtung aussehen? Wie soll sie beschaffen sein? Obwohl Falb in seinem Essay zunächst sehr kritisch die Paradoxien des Anthropozänbegriffes aufzeigt, entwickelt er in der Folge eine erstaunlich konkrete Anthropozänpoetik, deren Normativität für Poetiken der Gegenwartsdichtung äußerst ungewöhnlich ist. Allerdings ist bereits die Grundannahme der falbschen Poetik äußerst streitbar, da sie eine Empirik des Anthropozäns scheinbar nicht gelten lässt. „Während der Geologie und der Ökolyrik ihre Fiktionen klar und deutlich vor Augen stehen, ist die heiße Gegenwart des Anthropozäns nicht mit bloßem Auge zu erkennen, obwohl sie hier und jetzt tatsächlich existiert. […] Der exponentielle Graph, gleich was er konkret anzeigt, ist das eine ikonische Bild des Anthropozäns. Denn es gibt kein anderes Bild dafür, nichts, das man unmittelbar anschauen und abbilden könnte.“

Dabei stellt sich natürlich umgehend die Frage, warum all die Bilder von versmogten Städten, überfluteten Inselstaaten, schmelzenden Gletschern, Kilometer tiefen Diamantminen, gigantischen Deponien und Monokulturfeldern nicht zählen. All diese Phänomene besitzen zwar einen gewissen Grad der Abstraktion, sind jedoch durch das Aufsuchen der entsprechenden Orte real erfahrbar. Falbs Essay zufolge sind all diese Dinge jedoch allenfalls Ausdruck des Anthropozäns, nicht aber das Anthropozän selbst. Das stimmt natürlich. Doch wie sonst soll man als Dichter mit dem Anthropozän umgehen?

Aufgrund der oben zitierten Annahme sieht Falbs Poetik eine der Ikonik des Anthropozäns entsprechende Lyrik vor. „Lyrik muss sich in den Topologien dieses globalen anthropozänen Datenraumes dichterisch aufzuhalten lernen. Das schließt ein, dass sie endlich anfängt, quantifizieren zu lernen.“ Im Folgenden wird deutlich, dass Falb wohl konkret eine Dichtung auf der Grundlage wissenschaftlicher Datensätze vorschwebt. Eine „konzeptuelle“ Dichtung
¹, die auf das „technowissenschaftlich erzeugte Objekt“ des Anthropozäns angemessen reagiert. Dementsprechend ist Anthropozändichtung für Falb frei von jeder Ästhetik und den „Trivialitäten und Redundanzen der Erfahrbarkeit“. Konkret könnte man auch sagen: ein wiedergekäuter Datensatz, in Verse gebrochen oder auch nicht, der inhaltlich maximal das vermittelt, was man auch in populärwissenschaftlichen Büchern nachlesen könnte. Nur eben fiktionsbefreit, denn dafür ist im Anthropozän nicht mehr die Dichtung, sondern die Wissenschaft selbst zuständig.

Es kommt zu Umschichtungen
², schließlich zur „Sezession der Anthropozändichtung vom Literarischen“ an sich. In Textbox 4 heißt es: „Anthropozändichtung ist anästhetische Dichtung, insofern sie jeder aus der 'Arbeit an der Sprache' erwachsenden Ästhetik gleichgültig gegenübersteht. Sie durchkreuzt den Stupidity-Vektor des Ästhetischen mit ihrer diesbezüglichen Gleichgültigkeit. Umgekehrt versucht sie, die vielen Irrtümer im impliziten Wissen der poetischen Formen und literarischen Mittel nach Möglichkeit zu vermeiden. Zum Beispiel ersetzt sie metaphorologische Verbackungen von Dingen durch die genaue Analyse von anthropozänen Realmixturen und Assemblages von Dingen.“ Wenn Duchamp also fragt, ob ein Künstler etwas schaffen kann, das kein Kunstwerk ist, stellt Falb mit seinem Essay letztlich die gleiche Frage für die Dichtung.


¹ Natürlich führt Falb bzgl. des Konzeptuellen auch Marcel Duchamp ins Feld. Was wäre hinsichtlich der Loslösung von Empirie, letztlich von Sinnzuschreibung naheliegender? Leider folgt Falb damit der weit verbreiteten Ausblendung der empirisch nachvollziehbaren Narrative, die Duchamps Hauptwerken La Mariée mise à nu par ses célibataires, même (Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar) und Etant donnés: 1° la chute d’eau / 2° le gaz d’éclairage (Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas) zugrunde liegen.

²  Siehe hierzu Jan Kuhlbrodts Rezension zu Falbs Gedichtband CEK



Daniel Falb: Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie. Berlin (Verlagshaus Berlin - Edition Poeticon) 2015. 48 Seiten. 7,90 Euro.

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