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Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek



I

DAS  SCHÖNE, DIE  MODE  UND DAS  GLÜCK



Es gibt in der Welt, und sogar in der Welt der Künstler, Leute, die in das Museum des Louvre gehen, an einer Menge sehr interessanter wenn auch zweitrangiger Bilder vorbeihasten, ohne sie eines Blickes zu würdigen, um sich träumend vor einem Tizian oder einem Raphael aufzustellen, einen von denen, die durch die Radierkunst am bekanntesten wurden; dann gehen sie wieder und mehr als einer sagt sich: »Ich kenne mein Museum.« Es gibt ja auch Leute, die glauben, weil sie Bossuet und Racine gelesen haben, im Besitz der Geschichte der Literatur zu sein.
    Zum Glück treten von Zeit zu Zeit Rächer auf, Kritiker, Liebhaber, Kenner, die versichern, daß Raphael nicht alles ist, daß Racine nicht alles ist, daß die poetae minores ihr Gutes, Gediegenes und Köstliches haben; und schließlich, weil man die allgemeine Schönheit so liebt, die durch die klassischen Dichter und Künstler ausgedrückt ist, hat man deswegen nicht weniger unrecht, die besondere Schönheit zu vernachlässigen, die einzelne Schönheit und die Eigentümlichkeit.
    Ich muß sagen, daß sich seit einigen Jahren die Welt ein wenig gebessert hat. Den Wert, den die Liebhaber heute den gestochenen und farbigen Nettigkeiten des vergangen Jahrhunderts beimessen, beweist, daß eine Reaktion stattgefunden hat in der Richtung, wie ihn die Öffentlichkeit nötig hatte; Debucourt, die Saint-Aubin und eine Reihe anderer haben Eingang gefunden in das Wörterbuch der studienwürdigen Künstler. Jene aber stellen die Vergangenheit dar; nun, heute will ich mich den Lebensgewohnheiten der Gegenwart widmen. Die Vergangenheit ist interessant nicht nur durch die Schönheit, die die Künstler aus ihr zu ziehen vermochten, für die sie die Gegenwart war, sondern auch als Vergangenheit, durch ihren geschichtlichen Wert. Genauso verhält es sich mit der Gegenwart. Das Vergnügen, das wir aus der Darstellung der Gegenwart gewinnen, beruht nicht nur auf der Schönheit, die man ihr verleihen kann, sondern auch auf ihrer Grundeigenschaft als Gegenwart.
    Ich habe vor Augen eine Reihe von Radierungen im Zeitgeschmack beginnend mit der Revolution und endend etwa mit dem Konsulat. Diese Kostüme, die viele gedankenlose Leute zum Lachen bringen, diese ernsthaften Leute ohne wahren Ernst, stellen einen Zauber doppelter, künstlerischer und historischer, Art dar. Sie sind sehr oft schön und geistvoll gezeichnet; doch woran mir mindestens ebenso liegt, und was ich die Freude habe, bei allen oder fast allen zu finden, das ist die Moral und die Ästhetik der Zeit. Die Idee, die der Mensch sich vom Schönen macht, prägt sich seinem ganzen Aufzug ein, zerdrückt oder versteift seine Kleidung, macht seine Geste rund oder gerade und durchdringt sachte auf Dauer die Züge seines Gesichts. Zu guter Letzt ähnelt der Mensch dem, was er gern sein würde. Diese Stiche können ins Schöne oder ins Häßliche übertragen werden; ins Häßliche, dann werden sie Karikaturen; ins Schöne, antike Statuen.
    Die Frauen, die mit diesen Kostümen bekleidet waren, ähnelten mehr oder weniger den einen oder den anderen, nach dem Grad an Poesie oder an Gewöhnlichkeit, von dem sie geprägt sind. Die lebende Materie machte bewegt, was uns allzu steif erscheint. Die Einbildungskraft des Betrachters kann noch heute diese Tunika oder diesen Shawl in Bewegung und zum Erzittern bringen. Demnächst wird vielleicht ein Drama auf irgendeinem Theater erscheinen, wo wir die Wiederauferstehung dieser Kostüme sehen, unter denen sich unsere Väter genauso bezaubernd fanden wie wir selbst uns in unseren dürftigen Kleidern (die auch ihren Reiz haben, das ist wahr, doch eher moralischer oder geistiger Art), und wenn sie von intelligenten Komödiantinnen und Komödianten getragen und belebt werden, werden wir uns wundern, daß wir darüber so gedankenlos zu lachen vermochten. Die Vergangenheit wird, dabei ganz das Anziehende des Gespenstes bewahrend, wieder das Licht und die Bewegung des Lebens bekommen und wird Gegenwart werden.
    Wenn ein unparteiischer Mann nacheinander alle französischen Moden vom Beginn Frankreichs bis zur Gegenwart durchblättern würde, würde er nichts Befremdliches, nicht einmal Überraschendes finden. Die Übergänge wären dort ebenso reichlich bewerkstelligt wie auf der Stufenleiter der Tierwelt. Keinerlei Lücke, also, keine Überraschung. Und wenn er der Vignette, die jede Epoche vorstellt, den philosophischen Gedanken hinzufügte, von dem diese ausgefüllt oder bewegt war, welchen Gedanken die Vignette unausweichlich in der Erinnerung hervorruft, würde er sehen, welche tiefe Harmonie alle Glieder der Geschichte regiert, und daß, sogar in den Jahrhunderten, die uns die abscheulichsten und verrücktesten scheinen, der unsterbliche Hunger nach dem Schönen immer seine Befriedigung gefunden hat.
    Hier ist in der Tat eine gute Gelegenheit, eine vernunftgemäße und historische Theorie des Schönen aufzustellen, im Gegensatz zu der Theorie des einzigen und absoluten Schönen; um zu zeigen, daß das Schöne immer, unausweichlich, von doppelter Beschaffenheit ist, wenn auch der Eindruck, den sie hervorruft, einer ist; denn die Schwierigkeit, die veränderlichen Bestandteile des Schönen in der Einheit des Eindrucks zu unterscheiden, hebt nicht die Notwendigkeit der Veränderlichkeit in seiner Beschaffenheit auf. Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Bestandteil, dessen Quantität äußerst schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, von den Umständen abhängigen Bestandteil, welches, wenn man will, abwechselnd oder alles zusammen, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird. Ohne dieses zweite Bestandteil, das gewissermaßen die vergnügliche, kitzelnde, appetitanregende Umhüllung des göttlichen Kuchens ist, wäre das erste Bestandteil unverdaulich, nicht schätzbar, nicht passend und nicht angemessen für die Menschennatur. Ich wette, daß man keinerlei Schönheitsmusterbeispiel ausfindig macht, welches nicht diese beiden Bestandteile enthält.
    Ich habe, wenn man so will, die beiden äußersten Stufen der Geschichte gewählt. In der priesterlichen Kunst fällt die Zweiheit gleich ins Auge; das Teil von ewiger Schönheit zeigt sich nur mit der Erlaubnis und unter der Regel der Religion der der Künstler angehört. Im leichtfertigsten Werk eines raffinierten Künstlers, der einer dieser Epochen angehört, die wir allzu eitel als zivilisierte bezeichnen, zeigt sich die Zweiheit gleichermaßen; das ewige Schönheits-teilstück wird zugleich verborgen und ausgedrückt, wenn nicht durch die Mode, so zumindest durch die besondere Veranlagung des Autors. Die Zweiheit der Kunst ist eine unausweichliche Folge der Zweiheit des Menschen. Betrachten Sie, wenn Sie wollen, den ewig bestehenden Teil als die Seele der Kunst, und das veränderliche Bestandteil als ihren Körper. Daher ist Stendhal, ein frecher, necklustiger, sogar widerwärtiger Geist, doch dessen Frechheiten nützlicherweise zum Nachdenken reizen, der Wahrheit näher gekommen als viele andere, als er sagte, daß das Schöne nur das Versprechen des Glücks ist. Diese Bestimmung schießt gewiß über das Ziel hinaus; es unterwirft das Schöne zu sehr dem unendlich veränderlichen Ideal des Glücks; es beraubt das Schöne allzu leichtfertig seines aristokratischen Charakters; doch sie hat das große Verdienst, sich entschieden von dem Irrtum der Akademiker zu entfernen.
    Ich habe schon mehr als einmal diese Dinge erklärt; diese Zeilen sagen denen genug zu, die diese Spiele des abstrakten Denkens lieben; doch ich weiß, daß die französischen Leser, zum größten Teil, kaum daran Gefallen finden, und ich bin selbst ungeduldig, zum wirklichen und tatsächlichen Teil meines Gegenstandes zu kommen.


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