Direkt zum Seiteninhalt

Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 12

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek


XII

DIE  FRAUEN  UND  DIE  MÄDCHEN




Indem sich also Herr G. die Aufgabe gestellt hat, die Schönheit in der Modernität zu suchen und zu erklären, stellt er gern reich geschmückte Frauen, verschönt durch allen künstlichen Prunk, dar, welchem gesellschaftlichen Stand sie auch angehören mögen. Übrigens, in der Sammlung seiner Arbeiten wie im Gewimmel des Menschenlebens springen die Klassen- und Rassenunterschiede, unter welcher prächtigen Hülle die Personen sich auch zeigen mögen,  dem Zuschauer unmittelbar ins Auge.
    Mal, getroffen von der matten Helligkeit eines Zuschauerraums, indem sie das Licht mit ihren Augen, ihrem Schmuck, ihren Schultern empfangen und zurückwerfen, erscheinen, strahlend wie Porträts in der ihnen als Rahmen dienenden Loge, junge Mädchen aus der besten Gesellschaft. Die einen, würdevoll und ernst, die anderen, blond und leichtsinnig. Die einen stellen mit aristokratischer Unbekümmertheit einen frühreifen Busen zur Schau, die anderen zeigen mit Unbefangenheit eine knabenhafte Brust. Sie haben den Fächer an den Zähnen, das Auge unbestimmt oder starr; sie sind theatralisch und feierlich wie das Drama oder die Oper, denen zu lauschen sie vorgeben.
    Mal sehen wir elegante Familien gemächlich in den Alleen der öffentlichen Anlagen spazieren, die Frauen gehen mit ruhiger Miene träge am Arm ihrer Gatten, deren sichere und vergnügte Miene ein gemachtes Glück und Selbstzufriedenheit verraten. Hier ersetzt das behäbige Aussehen die erhabene Vornehmheit. Etwas magere kleine Mädchen, in weiten Unterröcken, die durch ihre Gebärden und ihre Haltung kleinen Frauen ähneln, machen Seilhüpfen, treiben Reifen oder besuchen sich im Freien, womit sie die zu Hause von ihren Eltern gespielte Komödie wiederholen.
    Auftauchend aus einer niederen Welt, stolz, endlich in der Sonne der Rampe zu erscheinen, lassen schwache, zerbrechliche, noch junge Mädchen von kleinen Theatern um ihre jungfräulichen und kränklichen Gestalten aberwitzige Vermummungen schlottern, die keiner Zeit angehören und ihre Freude sind.
    An der Türe eines Cafés, an die von vorn und hinten beleuchteten Scheiben gelehnt, macht sich einer dieser Dummköpfe breit, dessen Eleganz vom Schneider und dessen Kopf vom Frisör gemacht ist. Neben ihm, die Füße auf dem unentbehrlichen Schemel ruhend, sitzt seine Maîtresse, ein nichtswürdiges Weib, der fast nichts fehlt (dieses fast nichts ist fast alles, es ist die Vornehmheit), um einer großen Dame zu ähneln. Wie ihr reizender Gefährte hat sie die ganze Öffnung ihres kleinen Mundes ausgefüllt von einer übergroßen Zigarre. Diese beiden Wesen denken nicht. Ist es gar sicher überhaupt, daß sie schauen? es sei denn, Narzisse der Dummheit, daß sie die Menge als einen Fluß betrachten, der ihnen ihr Ebenbild wiedergibt. In der Tat existieren sie wohl eher für das Vergnügen des Beobachters als für ihr eigenes Vergnügen.
    Hier nun, ihre Säle voller Licht und Bewegung öffnend, diese Valentinos, diese Casinos, diese Prados (ehedem Tivolis, Idalies, Folies, Paphos), diese Rumpelkammern, wo der Schwall der müßigen Jugend sich freien Lauf läßt. Frauen, die die Mode dermaßen übertrieben haben, daß sie deren Reiz verderben und deren Absicht zerstören, fegen prunkend die Parketts mit der Schleppe ihres Kleides und der Spitze ihrer Châles; sie gehen, sie kommen, gehen vorbei, gehen wieder vorbei, machen erstaunte Augen, wie solche von Tieren, scheinen nichts zu sehen, betrachten aber alles aufmerksam.
    Vor dem Hintergrund eines Höllenfeuers oder vor einem roten, orangenen, schwefligen rosigen (das Rosa offenbart eine Vorstellung von Ekstase im Leichtsinn), zuweilen violetten (von Stiftsdamen bevorzugte Farbe, hinter einem azurblauen Vorhang erlöschende Glut) Nordlichthintergrund, vor diesen magischen Hintergründen, die auf verschiedene Weise die bengalischen Feuer nachahmen, hebt sich das abwechslungsreiche Bild der zweideutigen Schönheit ab. Hier würdevoll, dort ungezwungen, mal schlank, schmächtig sogar, mal zyklopisch; mal klein und ungestüm, mal schwerfällig und monumental. Sie hat eine provozierende und barbarische Eleganz erfunden, oder sie trachtet, mit mehr oder weniger Glück, nach der in einer besseren Welt gebräuchlichen Einfachheit. Sie tritt hervor, gleitet, tanzt, wirbelt umher mit ihrem Gewicht von bestickten Unterröcken, welches ihr als Piedestal und Balancierstange zugleich dient; sie schleudert ihren Blick unter ihrem Hut hervor, wie ein Porträt in seinem Rahmen. Sie stellt recht die Wildheit in der Zivilisation dar. Sie hat ihre Schönheit, die das Böse ihr verleiht, stets frei von Geistigkeit, doch manchmal gefärbt von einer Müdigkeit, die der Melancholie ähnelt. Sie richtet den Blick zum Horizont wie das Raubtier; gleiches Abirren, gleiche träge Zerstreutheit, und ebenso, zuweilen, gleiche Aufmerksamkeitsstarre. An den Grenzen einer ordentlichen Gesellschaft entlangwandernder Bohemientyp, die Plattheit ihres Lebens, welches ein Leben von List und Kampf ist, tritt unvermeidlich zutage durch ihre Hülle von Pomp. Zu Recht lassen sich auf sie diese Worte des unnachahmbaren Meisters, La Bruyère, anwenden: »Es gibt bei manchen Frauen eine künstliche Größe, die abhängt von der Bewegung ihrer Augen, einem hochmütigen Aussehen, der Arten zu gehen, und die nicht weit kommt.«
    Die die Kurtisane betreffenden Erwägungen lassen sich bis zu einem gewissen Punkt auf die Schauspielerin anwenden; denn auch diese ist ein Prunkgeschöpf, ein Gegenstand öffentlichen Vergnügens. Doch ist hier die Eroberung, die Beute von edlerer, geistigerer Natur. Es geht darum, die allgemeine Gunst zu gewinnen, nicht allein durch die reine körperliche Schönheit, sondern auch durch Fähigkeiten von der seltensten Art. Wenn durch eine Seite die Schauspielerin der Kurtisane nahekommt, grenzt sie durch die andere an den Dichter. Vergessen wir nicht, daß es neben der natürlichen Schönheit, und sogar der künstlichen, bei allen Menschen eine Berufseigentümlichkeit gibt, ein Merkmal, das sich körperlich als Häßlichkeit, aber auch als eine Art von Berufsschönheit äußern kann.
    In dieser gewaltigen Galerie des Londoner und des Pariser Lebens stoßen wir auf verschiedene Typen der umherziehenden Frau, der aufrührerischen Frau auf allen Stufen: zunächst das leichte Mädchen, in ihrer ersten Blüte, das nach vornehmem Aussehen trachtet, stolz zugleich auf ihre Jugend wie auf ihre Pracht, worein sie ihr ganzes Talent und ihre ganze Seele legt, wenn sie behutsam mit zwei Fingern einen breiten Rockschoß aus Atlas, aus Seide oder aus Velours rafft, der um sie flattert, und wenn sie den spitzen Fuß vorstellt, dessen allzu verzierter Schuh genügen würde, sie zu verraten, auch ohne die etwas kräftige Betonung ihres ganzen Putzes; folgen wir der Rangordnung weiter, steigen wir bis zu diesen Sklavinnen hinab, die eingesperrt sind in diesen Spelunken, die dekoriert sind wie Cafés; Unglückliche, die unter der geizigsten Bevormundung stehen und nichts Eigenes besitzen, nicht einmal den auffallenden Schmuck, der ihrer Schönheit als Gewürz dient.
    Unter diesen haben die einen, Beispiele einer unschuldigen und ungeheueren Selbstgefälligkeit, in ihren Köpfen und in ihren dreist erhobenen Blicken das offenbare Glück zu existieren (wahrlich wieso?). Manchmal finden sie ohne sie zu suchen zu einer Stellung von einer Kühnheit und einer Erhabenheit, die den wählerischsten Bildhauer entzücken würden, wenn der moderne Bildhauer den Mut und den Geist hätte, die Erhabenheit überall aufzulesen, selbst aus dem Schlamm; ein andermal zeigen sie sich entkräftet in verzweifelten Lagen von Überdruß, in den Wirtshausstumpfheiten, von einem männlichen Zynismus, Zigaretten rauchend, um die Zeit totzuschlagen, mit der Resignation des orientalischen Fatalismus; sich lang ausgestreckt auf Kanapees räkelnd, den Rock vorn und hinten zu einem doppelten Fächer gebläht oder sich auf Schemeln oder Stühlen im Gleichgewicht haltend; dumpf, trüb-, stumpfsinnig, närrisch, mit von Schnaps glänzenden Augen und vor Starrsinn gewölbten Stirnen. Wir sind hinabgestigen bis zur untersten Stufe der Spirale, bis zu der femina simplex das lateinischen Satirikers. Mal sehen wir, auf dem Hintergrund einer von Alkohol- und Tabakdünsten durchmischten Atmosphäre, sich die von der Schwindsucht glühende Magerkeit abzeichnen oder die Rundungen der Fettsucht, diese scheußliche Gesundheit der Faulheit. In einem trüben und goldglänzenden Wirrwarr, nicht geahnt von den armen Keuschheiten, bewegen sich konvulsiv grausige Nymphen, lebende Puppen, aus deren kindlichem Auge eine düstere Helligkeit dringt; während sich hinter einer mit Likörflaschen bedeckten Theke eine kräftige Megäre breitmacht, deren Kopf, in ein Seidentuch gezwängt, das an der Wand den Schatten mit seinen teuflischen Zipfeln zeichnet, denken läßt, das alles, was dem Bösen ausgeliefert ist, dazu verurteilt ist, Hörner zu tragen.
    In der Tat, nicht mehr, um weiterhin dem Leser zu gefallen, sondern um ihn zu entrüsten, habe ich vor seinen Augen solche Bilder ausgebreitet; in dem einen oder anderen Fall hätte es bedeutet, es ihm gegenüber an Achtung fehlen zu lassen.Was ihnen Wert und Weihe verleiht, das sind die zahllosen, im allgemeinen ernsten und  finsteren, Gedanken, die sie erzeugen. Doch sollte zufällig irgendein Unkluger in diesen Kompositionen Herrn G.’s, die fast überall verstreut sind, die Gelegenheit suchen, eine sittenwidrige Neugierde zu befriedigen, so lasse ich ihn mildtätigerweise wissen, daß er nichts finden wird von dem, das eine krankhafte Phantasie anreizen könnte. Er wird nichts als das unvermeidliche Laster finden, das heißt den Blick des in der Finsternis verborgenen Dämons, oder die im Gaslicht schimmernde Schulter Messalines; nichts als die reine Kunst, das heißt die besondere Schönheit des Bösen, das Schöne im Grauenvollen. Und sogar, um es nebenbei zu wiederholen, die allgemeine Empfindung, die von dieser ganzen Rumpelkammer ausgeht, enthält mehr Traurigkeit als Spaßhaftigkeit. Was die besondere Schönheit dieser Bilder ausmacht, ist ihre moralische Fruchtbarkeit. Sie gehen schwanger mit Eingebungen, doch mit schrecklichen, bitteren Eingebungen, die meine Feder, wenn auch gewohnt, die formschönen Darstellungen zu bekämpfen, nur ungenügend übersetzt hat.


Zu Teil 13: Die Fahrzeuge »

Zurück zum Seiteninhalt