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Cees Nooteboom: Mönchsauge

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Timo Brandt

Lebensabendfeuer im leerstehenden Leuchtturm am großen weiten Meer


„der Weg
zum verlassenen Gebäude,
dort, wo man tanzt,

Hände in Händen, dann längeres
Dasitzen, Warten, was ist Abend“

Gedankenvolle und gleichsam gedankenleere Abende am Meer, Wanderungen durch Wäldchen. Sinnbild ist die alles abladende und dann wieder alles raffende Welle, außerdem die Luft und das Licht als große Anwesende oder Abwesende, als daseinsbedingende Entitäten, durchlässig, aber nicht zu greifen, immer am Kommen und Schwinden. Sie halten den Lebenden nicht im Leben, im Gegenteil – worauf sie auch hinweisen, was sie auch zeigen und bringen, sie weisen uns weiter und schließlich unaufhaltsam aus dem Leben hinaus.

Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, vor allem bekannt für seine Novellen und Romane, sowie seine vielen Reisetexte, hat mit diesem Gedichtbuch ein Alterswerk vorgelegt, das einen langen Blick zurückwirft. Oder vielmehr: einen tiefen Blick hinein in die Entfernung, die ein solcher Blick zurück scheinbar enthält – und die sich bei näherer Betrachtung viel weniger als Linie denn als Kreis entpuppt, auf dessen Umlaufbahn sich alles abspielte; der Weg war „ein Einholen und Abhängen und der sinnlose Versuch sich selbst zu überrunden“ wie es bei der Dichterin Denise Levertov heißt.

„In seinen Armen ein Trugbild, die leere
Luft einer Toten, noch immer nicht stumm,

das Gekrächz eines ersten Verlangens,
verweht und zerschellt an einer Vielzahl
von Jahren, […]
nimm mich mit, nimm mich mit,

aber wohin?“

In dreiunddreißig formal strengen, auf der Insel Schiermonnikoog (Insel der grauen Mönche) geschrieben Gedichten, durchsucht Nooteboom mit spontanen Eingebungen und altgedienten Fragen (Sokrates und anderen entliehen) den Kosmos seiner Erinnerungen und noch mehr den Kosmos der den Erinnerungen innewohnenden Kontinuitäten. Welche Elemente machen das erinnerte Leben zu einer so plastischen Erfahrung? Decken diese Elemente unser Bewusstsein ab, sodass wir irgendwann in jedem Ding nur noch sehen, was wir erlebten und nicht, was wir sehen? Wie stark vernäht sind wir mit diesem Damals, an das wir uns klammern, dieser verlorenen Zeit, diesem verlorenen Raum?

„Mönchsauge“ heißt der Band wegen des Ortes, an dem er entstanden ist, aber auch thematisch passt der Titel gut. Nootebooms Wanderungen über die Insel und durch die Felder seiner Auseinandersetzung mit dem Lebensspuk, dem Lebensruf, sind eine zurückgezogene Angele-genheit. Zwar wühlt der Autor auch in sich, versucht manches zu fügen, aber im Vordergrund steht die möglichst weit zur Ruhe kommende, in dieser Ruhe verharrende Beobachterposition. Meditativ sind die Gedichte – und doch werden sie umgetrieben von der Natur, in deren Bewegungen sie entstehen, und die jedem Aspekt des Geistigen in den Texten eine sinnliche Note entgegenstellen, zwischen denen der Text hörbar schwankt.

„Nichts verstehe ich, ihre Worte
fliegen vorbei wie Klänge und verschwinden

in der Brandung als Gischt.“
       
Es fehlt etwas, woran man das Leben oder überhaupt eine Feststellung messen kann, das zeigt sich bald, während die Zeilen branden und sich wieder verlaufen. Nootebooms Lyrik ringt bei aller Klarheit mit dem Problem jener Abwesenheit eines Maßes, dessen Skala schon viele ambitionierte Gedichte ganz abdecken wollten, aber letztlich konnte es nie konstruiert werden oder nur in Teilen. Lediglich die Sehnsucht danach offenbart sich in vielen Versen von vielen unterschiedlichen Lyriker*innen.

Douglas Adams schreibt auf einer der Seiten seines kongenialen „The Hitchhiker's Guide to the Galaxy“: „the function of art is to hold a mirror up to nature […] but the Universe is infinite which means there simply isn't a mirror big enough.“
    Auch in Nootebooms Spiegel zeigen sich vor allem Teile von Gestaltetem, aber auch Gestaltloses, zu groß für den Spiegel. Selbst das ruhende Auge kann sie nicht ganz entziffern und zuordnen; zu dünn ist das Nadelöhr der Gegenwart, durch das jede Art von Beobachtung fließen muss, so konzentriert sie auch sein mag.

„Ich weiß,

was ich weiß, sagte der Abend
und verschwand in der Felswand

ohne Gruß.“
          
Vieles von dem, was ich schreibe, klingt kritisch, doch so ist es gar nicht gemeint. Ich finde dieses Scheitern von Nootebooms Gedichten bezeichnend und beeindruckend, so sehr, dass ich mich fast gezwungen sehe, ein wenig gegen sie anzuschreiben, weil ich sie sonst nur unergiebig loben und unanschaulich preisen könnte.

Es sind sicher, was ihre ästhetische Dimension angeht, keine überragenden Texte. Aber dadurch bestechen sie letztlich: ihre Sprache ist die Wiedergabe der Flüchtigkeiten, der Brüche im Eindruck, welche sich gerade noch als Ausdrücke gestalten lassen. Sie nehmen ihre eigene Ausgangslage, ihr eigenes Verfahren ernst und verzichten trotz der immer gleichen Form auf eine übergreifende Ästhetik.

Und gehen so ihren eigenen Weg – sind Disput, Gedankenmühle, Wellenrauschen, Wind. Fast hat man manchmal das Gefühl, sie würden etwas herauszögern. Einen Abschied? Ein Ankommen? Das ist wohl die große Frage, die jeden Moment des Erlebens ein bisschen mitbedingt.

„So will ich schon noch ein Leben, Schlamm an den
Schuhen, Rettich und Äpfel in meinem Korb,
verkrümelte Ewigkeit, hundert Meter weiter
beginnt der Rand der Welt, pass auf, Träumer,

du stürzt ab wie ein Stein.“
         

Cees Nooteboom: Mönchsauge. Zweisprachig. Übers. Ard Posthuma. Berlin (Bibliothek Suhrkamp) 2018. 128 Seiten. 24,00 Euro.
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