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Attila József: Liste freier Ideen

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Mario Osterland

Im Sog der Neurose
József Attilas beeindruckende Selbstanalyse
 

Gedankenprotokoll oder Langgedicht, Autobiografie oder Fiktion? József Attilas Liste freier Ideen ist nichts für Gattungsfetischisten; für zartbesaitete Leser erst recht nicht. Der ungarische Dichter, der zu den bedeutendsten seines Landes gehört, ist im deutschsprachigen Raum, wenn überhaupt, vor allem für seine Lyrik bekannt. Nur wenige dürften darüber hinaus das Schicksal des aus der Kommunistischen Partei Ungarns ausgeschlossenen Freudomarxisten und suizidalen Schizophrenen kennen. Nun, woher auch? könnte man fragen. Die biografischen Informationen im Internet sind spärlich, eine Biografie auf Deutsch gibt es nicht. Und das, obwohl Jószef für zahlreiche Kritiker und Literaturhistoriker in eine Reihe mit Größen wie Kavafis, T.S. Eliot oder Pessoa gehört.
    Umso schöner ist es da, dass bei roughbooks nun ein Text Józsefs erscheint, der es bisher in keine Werkausgabe geschafft hat, bis 1990 sogar mehr oder minder geheim gehalten wurde. Die Liste freier Ideen ist im Wortsinne ein aufschlussreiches Dokument, da es als Schlüsseltext zum Verständnis Józsefs dient. Der Autor, der unter schweren Depressionen und Neurosen litt, begab sich Ende 1934 in Behandlung der jüdischen Psychoanalytikerin Edit Gyömrői. Die Behandlung verhalf dem Autor allerdings nicht zu einer Linderung, sondern verschlimmerte seinen Seelenzustand hin zu einer Schizophrenie. In der Folge wurde Gyömrői mitunter eine Mitschuld an Józsefs Suizid im Dezember 1937 gegeben.
    Zum Schreiben der Liste, die am 22. Mai 1936 entstand, hat Gyömrői ihren Patienten nicht ermuntert. In einem Interview, dass Gyömrői 1970 in London gab, betont sie, nicht einmal von ihr gewusst zu haben. Der beeindruckende Text, der als eine Art schonungslose Selbstanalyse angesehen werden kann, scheint das Scheitern der Therapie zusammenzufassen und zu verdeutlichen. József rechnet geradezu mit Gyömrői ab, in die er sich offensichtlich verliebt hat, die seine Zuneigung jedoch nicht erwidert. Auf dieser Grundlage rechnet der Dichter mit ihr, mit sich, mit seinen Eltern ab. Er lässt Worte des Ekels an der kapitalistischen Welt aufs Papier hageln, hadert mit seiner unerfüllt bzw. unbefriedigend gebliebenen Homo- bzw. Bisexualität.

„... ich hab vor der Frau Kesztner die Bettdecke gelüpft, damit sie alles sehen kann// ich tat dabei so, als schliefe ich noch// später hat sie mal lachend erzählt: 'Er hat sein Ding nach draußen baumeln lassen.'// dasselbe hab ich auch in Szeged gemacht, und meine Vermieterin – die alte Tante – damit zur Fellatio gebracht// ich würde es auch wieder tun// was soll ich machen, ich habe so Angst vor dem Koitus// ein Neurotiker ist ein umgedrehter Perverser, eine Analytikerin eine umgedrehte Hure// meine Erste war sehr grob zu mir …“
 
Es ist ein freudianischer Strudel, der um die Theorien der Psychoanalyse weiß. Eine écriture automatique, die trotz aller Multiperspektivität nie surreal gerät. Mit jedem Wort ist man nah am Autor, solidarisiert sich mit dem Leidenden oder ist geradezu abgestoßen von sexistischen oder antisemitischen Ressentiments, die im Sturm des „alles sagen, alles zulassen“ aus dem Un(ter)bewusstsein an die Oberfläche getrieben werden. Die Ineinssetzung von Text und Autor kann dabei jedoch auch auf den Holzweg führen.
    Glücklicherweise haben die Herausgeber und Übersetzer Christian Filips und Orsolya Kalász dem schmalen Band die nötigen Materialien (Gedichte, Vor- und Nachwort, Interview mit Gyömrői) beigegeben, um Entstehung, Bedeutung und Rezeption der Liste einordnen zu können. Zusätzlich zur psychologischen Analyse József Attilas bekommt das Buch seine Bedeutung als Zeitdokument psychischer Belastungen, die potentiell verfolgte Menschen in den 1930er Jahren aushalten mussten – oftmals nicht konnten. Als letzten Ausweg aus einer Gemengelage inneren und äußeren Drucks wählte József Attila im 1937 den Freitod.


Attila József: Liste freier Ideen. Hrsg. und übersetzt von Christian Filips und Orsolya Kalàsz. Schupfart (roughbook 043) 2017. 110 Seiten. 10,00 Euro.
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