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Arsenij Tarkowskij: Reglose Hirsche

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Jan Kuhlbrodt

Begegnungen

zu den Gedichten Arsenij Tarkowskijs


Lassen Sie mich am Anfang ein Gedicht in voller Länge zitieren.

Aerostate luftiger Schwergewichte

Moskau bevölkern
erstaunliche Tiere,
Elefanten und Wale tummeln sich am Himmel.
Werden nachts an rasselnden Ketten spazierengeführt,
grasen über der Stadt
ohne Rücksicht auf Verluste,
tagsüber ruhen sie mit dicken Bäuchen auf dem Boulevard
und verdauen gemächlich
die Kost aus himmlischen Wolken, Heu und Sternen,
Mädchen mit Gasmasken bewachen sie,
die Moskauer begegnen ihnen mit Respekt:
– Was für Tiere – gewichtige, üppige …


Dieses Gedicht wurde 1943 geschrieben. Mitten im Krieg gegen Deutschland.

Wenn ich eine Eigenheit der russischen Kunst benennen sollte, dann würde ich das Unerwartbare hervorheben. Sie ist (für mich) unerwartbar in der Art und Weise, wie sie mir begegnet, und unerwartbar in dem, was sie transportiert. Und rückblickend muss ich sagen, unerwartbar auch in der Art und Weise, wie sie mich beeinflusst.

Zwei Begegnungen hat mir in letzter Zeit Margitt Lehbert mit der Edition Rugerup beschert. Immer im Gespann mit der Übersetzerin Martina Jakobson. Zum einen war da die Ausgabe mit Gedichten Annenskijs (Wolkenrauch), eines Autors dessen Name sich aufgrund der Lektüren von Biografien und wissenschaftlicher Artikel über die russische Literatur in meinem Kopfnetz verfangen hatte, ohne dass es bis dahin ein textliches Bild gab, und jetzt die Ausgabe mit Gedichten Arsenij Tarkowskijs, die für mich eine ersehnte Wiederbegegnung ist.

Zur Übersetzungskunst Jakobsons sei angemerkt, dass sie mich vor allem deshalb überzeugt, weil es ihr gelingt, einen souveränen Umgang mit dem Reim zu entwickeln, der in der russischen Lyrik doch eine gewichtige Rolle spielt, dessen Übersetzung, wenn sie glücken soll, jedoch eine gewisse sprachliche Freiheit verlangt. In Jakobsons Übersetzung bleibt er präsent, zuweilen nur als Anklang, ohne das ihm das Gedicht in seiner semantischen Struktur unterworfen wird. Die Ausgaben sind zweisprachig, so dass man sich, wenn man wie ich das Glück hatte, einen zwar schlechten aber doch einen Russischunterricht zu genießen, mit etwas Mühe, dem Klang des Originals versichern kann.

Andrej Tarkowskij starb 1986 im Pariser Exil, nachdem er sich in einer anthroposophischen Klinik in Deutschland erfolglos hatte seinen Krebs behandeln lassen. Als er sich in die Arme der Schulmedizin begab, war es zu spät, noch etwas zu machen. Allerdings ist es wahrscheinlich auch unsinnig zu behaupten, dass früher noch etwas machbar gewesen wäre, reine Spekulation: Was wäre wenn. In seinem Essay Die versiegelte Zeit schreibt er: Das Leben ist nichts als eine dem Menschen zuerkannte Frist, in der er seinen Geist entsprechend den eigenen Zielvorstellungen von seiner menschlichen Existenz formen kann und muss.

Arsenij Tarkowskij, sein Vater und der Dichter, um dessen Gedichte es hier geht, starb drei Jahre später in hohem Alter in Moskau. Er ist 1907 geboren. Vater und Sohn verbanden sicherlich mehr, als familiäre Verhältnisse, diese wahrscheinlich noch am wenigsten, denn der Dichter hatte die Familie verlassen als Andrej noch jung war. Es muss da also eine ästhetische Verbindung sein, die sich letztlich in einer Reaktion der sowjetischen Administration auf beide Künstler spiegelte. Ins Auge sticht eine religiös mystische Dimension sowohl in den Filmen des Sohnes als auch in den Gedichten des Vaters. Sie bewegen sich beide an den Rand des Verstehbaren.

Die Geschichte dieser Künstler ist eine Geschichte der Verschiebungen, und verdient es in einem eigenen Essay behandelt zu werden. Mir bleibt hier zunächst nur der Raum anzudeuten.

Als 1966 das literarische Debüt Tarkowskijs erschien (sein Sohn hatte inzwischen die Moskauer Filmhochschule absolviert und dort den meiner Meinung nach grandiosen Film „Die Geige und die Dampfwalze“ vorgelegt), war das für viele wohl eine Überraschung, denn bekannt geworden war er durch Übersetzungen aus dem Armenischen.
Gleichwohl begrüßte Anna Achmatowa dieses Buch geradezu euphorisch. Allein konnte ihre Besprechung erst Jahre später nach ihrem Tod erscheinen. Arsenij Tarkowskij jedoch zählte von diesem Augenblick an zu den bedeutendsten Lyrikern seiner Sprache.

In einem Gedicht, das er seiner Freundin und Kollegin Marina Zwetajewa widmete, taucht meiner Ansicht nach etwas von dem auf, was auch seine eigene Poetologie beschreibt:


Was wandelbar schien, gewinnt an Sinn und Gestalt
die Lüfte, die dich bis zu den Sternen trugen,
der Gürtel um deine Taille, dein ungelenker Gang
und der Klang deiner scharfkantigen Gedichte.


Gerade im ersten Vers ist ein Zugang zu erkennen zu dem, was Dichtung sein kann, eine Transformation des zunächst Unbegreiflichen in Form. Und eben in lyrische Form. Es wird dadurch nicht im diskursiven Sinn erkennbar, nicht analytisch zerlegt, aber empfängt einen existentiellen Sinn in Rhythmus und Klang. Man könnte das eine Art mystische Aneignung nennen.

Die Rezeption der Dichtung Tarkowskijs wurde jedoch zumindest im damals sozialistischen Ausland von kommunistischen Exportschlagern wie Jewtuschenko überlagert, so dass es bis in die Achtziger dauert, dass ein Poesiealbum mit Übersetzungen seiner Texte erschien. Ich war damals Anfang zwanzig und saugte die Verse geradezu ein, begann extra eine Art Tagebuch, um sie als Motto an den Anfang zu stellen. (Es handelt sich um die beiden Schlussverse des Gedichtes Erste Begegnung, das in einer Neuübersetzung auch im Rugerup-Band zu finden ist.)
Dann aber kam der politische Umbruch in der DDR und so einiges verschwand oder wurde kaum wahrgenommen, teilweise vielleicht sogar eingestampft, wie eine Ausgabe der Weißen Reihe des Verlages Volk und Welt mit Gedichten Arsenij Tarkowskijs. Es ist also hohe Zeit, diesen Autor auch für den deutschsprachigen Raum zu entdecken, was dank der Edition Rugerup und dank Martina Jakobson jetzt möglich ist.



Arsenij Tarkowskij: Reglose Hirsche. Hrsg. und übers. von Martina Jakobson. Hörby (Edition Rugerup) 2013. 160 Seiten. 19,90 Euro.

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