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Ansicht der leuchtenden Wurzeln von unten

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Christoph Georg Rohrbach

Etwas dazu und darüber



Online-Rezensionen sind heute vieles: Buchvorstellungen, erweiterte Klappentexte oder auch tatsächlich Bewertungen. Die folgende ist wahrscheinlich, was häufiger vorkommt, ein bisschen von allem. Eine Textsammlung von 33 jungen Autorinnen und Autoren zu begutachten, ist aufgrund der Unterschiedlichkeit der Schreibansätze keine Aufgabe, die in einem verhältnismäßig kurzen Text auch nur annähernd umfassend erfüllt werden kann. Machbar erscheint mir, Einblicke in drei Ebenen meiner Lektüre zu liefern.

Ebene I

Der Klappentext spricht von einem „einzigartige[n] Experiment“, denn erstmals erscheinen Gedichte von Studierenden der Literaturinstitute in Wien, Leipzig, Hildesheim und Biel in einer gemeinsamen Anthologie. Vier Autorinnen und drei Autoren übernahmen dabei gleichfalls die Herausgeberschaft. Das Publizieren von Zeitschriften und Jahresanthologien ist den Einrichtungen dabei nicht fremd, das Experiment besteht vielmehr in der Zusammenarbeit der Institute und der Festlegung auf Lyrik.

Mir sind die Vorbehalte gegenüber der Ausbildung an den vier deutschsprachigen Literaturinstituten bekannt. Manche gipfeln in der Behauptung, sie führe die Studierenden tendenziell zu einer Normpoetik, oder eine solche werde dort gar gelehrt. Gelegentlich liest oder hört man etwas (positiv wie auch negativ) über die „Hildesheimer“ oder „Leipziger“. Das ist Blödsinn; was auch dieses Buch beweist.


Aber: Sicher gibt es nicht-literarische Organisationsprinzipien, welche die Einzelpoetiken durchaus prägen. Die „Region“ ist eines davon. Ein länderspezifischer oder gar ein Ost-West-Unterschied lässt sich jedoch (längst) nicht (mehr) feststellen. Ein Blick in die Biografien verrät, dass für diese Generation Landes- und Ländergrenzen keine literarischen sein können. Wenn ich also „Region“ schreibe, dann meine ich vor allem Stadt im Unterschied zu anderen Städten; als Umfeld, in dem bestimmte kulturelle, politische und soziale Eindrücke entstehen. Andere Organisationsprinzipien oder „Umfelder“ wären dementsprechend Verlage, (eingetragene) literarische Vereine und daneben die genannten Literaturinstitute. Neu sind (mindestens dem Namen nach) sogenannte „Lyrik-kollektive“.

Einige Schreibende der Anthologie sind Mitglieder des Lyrikkollektivs GID; googelt man „Lyrikkollektiv“ findet man daneben noch das Lyrikkollektiv G13: gleiche Generation, unterschiedliche Autoren. Diese Kollektive sind im Grunde Diskussionsplattformen, jedoch ‒ und das ist vielleicht das Neue ‒ treten diese mehr oder weniger geschlossen als solche an die Öffentlichkeit. Spektakuläre Novitäten sind diese „Umfelder“ nicht.
Den Biografien der Anthologie kann man entnehmen, dass die zwischen 1976 und 1995 geborenen Autoren kurz vor oder kurz nach ihrer ersten selbstständigen Publikation zu stehen scheinen und zumeist an den letzten beiden umfangreichen Anthologien All dies hier Majestät, ist deins (kookbooks 2016) und Lyrik von Jetzt 3 (Wallstein 2015) beteiligt waren. Denkt man in Lyrik-von-Jetzt-„Generationen“, dann gehören sie also zur dritten; das klingt etwas redundant, ist es aber nicht. Übrigens: Die zurecht beklagte Dominanz von Männern im Literaturbetrieb scheint für die Zusammensetzung der studentischen LyrikerInnen an den Literaturinstituten keine Rolle zu spielen; die deutliche Mehrheit dieser Anthologie ist weiblich.

Ebene II

Ab ins Buch. Erstmal ins Nachwort. Michael Braun hat es geschrieben und zwar sehr gut. Glücklicherweise versucht auch er darin die Texte erst einmal einzuordnen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen. Auch der neue Lyrik-Leser (ein Blickfeld, das ich gerne zu beachten versuche) bekommt dadurch Zugang zu einer Menge an sehr unterschiedlichen Texten.

Ein Keyword ist das Gedicht als „Mobile“, im Sinne eines nicht-beschreibenden, sondern assoziativ wirkenden Textes. Wohl ein von Daniela Seel entworfener Begriff zur Beschreibung der eigenen poetischen Herangehensweise in ihrem Band was weißt du schon von prärie (2015). Braun baut diesen zu einem Trend-Gedanken der 2010er aus und bringt ihn mit einem Zitat Yevgeniy Breygers in Verbindung, in dem wiederum das „Mobile“ als ein „dynamisches“ erscheint. Eine durchaus interessante, (für mich) neue Beobachtung, die sich beim Lesen der Gedichte zu bestätigen scheint. Wenn Braun jedoch die angestrebte Wirkungsästhetik mit der Form zusammenbringt, scheinen mir einige Schlüsse voreilig. Die erwähnte „Poetik der Beweglichkeit“ gewinnt im Nachwort ein Moment „form follows function“ (eher im Chicago-School- als im Bauhaus-Sinn), den ich jedoch weder in den Gedichten, noch in den zitierten Überlegungen Seels oder Breygers sehe. Braun schreibt, dass diese Poetik wegführe „von den traditionellen Formen (Sonett, Volksliedstrophe, Ghasel etc.) und stattdessen »neutrale« Formen“ wie z.B. „Gedichte im Blocksatz oder freischwebende, unverbundene Zeilen“ erprobe. Ja, in der Anthologie lässt sich kein Sonett, keine Volksliedstrophe und kein Ghasel finden, aber auch Blocksatzgedichte und Lyrik mit eingerücktem oder ganzseitigem Druckbild kann man eine gewisse Tradition nicht absprechen und die hier abgedruckten Gedichte wissen davon... Selbst Breygers Gedichtzyklus offenbart, dass das „dynamische Mobile“ durchaus mit einer „traditionellen“ Form zusammengeht: Die vier Gedichte sind jeweils klar in drei Strophen mit vier Versen gegliedert und tendieren stellenweise zum Liedvers (drei- oder vierhebiger Jambus), ab und an mit verhaltenem Endreim.

Die Abgrenzung einer „neutralen“ zu einer traditionellen Form finde ich zunehmend schade; auch da sich Braun widerspricht, wenn er in seinem Nachwort dennoch z.B. von „historischer Stilhaltung“ bei den Petrarca-Bezügen Sandra Burkhardts schreibt oder auf dadaistische Tendenzen Rick Reuthers verweist. Auch in der editorischen Notiz ist den AutorInnen bewusst, dass sie keinesfalls „neutral“ der Literaturgeschichte begegnen; selbst der Mehrheit der Biografien ist ein Zitat untergestellt, das auf Autoren verweist, die den Schreibprozess möglicherweise beeinflusst haben. Aber ja, sofern sich das bei ein bis drei Seiten Text pro AutorIn sagen lässt, die hier vertretenen setzen sich keinen literarischen Zuchtmeister.
Ich bin dennoch der Überzeugung, dass selbst den Neulingen unter den Gegenwartslyrik-Lesern die Unterschiede zu der ihnen bekannten Lyrik nicht aufgezeigt werden müssen; wertvoller sind dagegen jene Ansätze, die ein erschließendes Lesen durch Bezug zum Bekannten erleichtern. Und Michael Braun liefert in seinem systematischen Nachwort solche gründlichen Ansätze zur Genüge.

Ebene III

Zu den Texten. Diese sind in fünf Kapitel eingeteilt, jeweils betitelt mit einer Zusammenfügung zweier Phrasen, die aus Gedichten der Kapitel stammen. So ergeben sich Kombinationen wie:

ein major postet putschversuche (Frank Ruf)

  natürlich hat er alle gerätschaften (Moritz Grote)


Beim Durchblättern fällt auf, dass die Texte selten mehr als nur eine halbe Seite einnehmen. Erstreckt sich ein Gedicht auf bis zu zwei Seiten, folgt es häufig einer recht konsequenten Stropheneinteilung. Aus diesem Druckbild fallen wenige Autoren heraus. Besonders eindrücklich sind dabei die Texte von Katia Sophia Ditzler, die im Vergleich zu den anderen Texten auf recht radikalen Sprachmix setzen und auf die Verwendung von Wissenschaftssprache (bzw. einer Bevorzugung von Wörtern, die eher biologisch, geologisch oder physikalisch statt „natürlich“ wirken). Letzteres vornehmlich zur Erzeugung von Sprachbildern, die z.B. ein Subjekt zu verorten versuchen („ich war immer schon mehr als plankton, ich war die summe allen planktons“; „wir stammen vom selben eukaryoten ab, wie übrigens alle anderen auch“). Bei Janin Wölke gipfelt eine ähnliche Herangehensweise in einem Druckbild, das die Zeilen verjüngt und ggf. wieder anwachsen lässt. Nastasja Penzar und Rick Reuther arbeiten radikal in der Verwendung digital-elektronischer Sprache oder mit Fragmenten aus digitalen Quellen. Generell ist das Wortmaterial aus anderen Sprachen, Fachsprachen und der digitalen Welt, in die Gedichte eingestreut, ohne unbedingt aufzufallen. Diese Selbstverständlichkeit erzeugt auch eine gewisse Gelöstheit des Duktus.
Das führt zu einer großen Gedichtgruppe, die einerseits mit Stofflichkeit, andererseits mit der Konstruktion eines inneren und äußeren Erlebens spielen. Frieda Paris schreibt da:
 

[…]
finde ich keinen Gefallen am Umgang
mit dem Belieben und spaziere spät
auf Sohlen Wunden über Pflasterstein
in meine Insel Ankleidezimmer zwischen den Federn

[…]


Ihrer Biographie stellt sie ein Zitat Sarah Kirschs bei. Ähnliche Ansätze sehe ich bei Ronya Othmann und Alexander Kappe. Das stoffliche Erleben wird bei Sirka Elspaß dann auf die Spitze getrieben, wenn in ihren Texten das Erleben zu einem „spüren am Leib“ wird. Mit diesen Texten formiert sich ein Zweifel an der Natürlichkeit des Körpers bzw. des Körperlichen überhaupt; Elspaß setzt es dafür in teils absurde Zusammenhänge, ohne dass diese Absurdität von außen erzeugt wirkt.

Was diese Anthologie durch ihre Beschränkung auf wenige Texte, wenige AutorInnen und die thematische Freiheit zu erreichen scheint, ist ein Halten literarischer Qualität. Kein Text hat sich hier auf kuriose Weise eingeschlichen. Das Ganze wirkt nicht, als wolle es den Stand der Arbeit abbilden oder Epochenbild sein. Dazu trägt wahrscheinlich ‒ und das war eine gute Entscheidung ‒ auch die Verwendung bereits publizierter Texte bei.
Das Ergebnis ist nicht wirklich ein Experiment, aber es ist eine gute Sammlung, die wie ein Auftakt wirkt. Der Einblick in Texte von AutorInnen wie Lara Rüter, Özlem Özgül Dündar oder Timo Brandt, die einem namentlich sicherlich bereits begegnet sind, ist ein Must-have, um sich Orientierung zu verschaffen und auf Lektüreerlebnisse der nächsten Jahre vorzubereiten.



Ansicht der leuchtenden Wurzeln von unten. Lyrik aus den deutschsprachigen Literaturinstituten. Herausgegeben von Yevgeniy Breyger, Özlem Özgül Dündar, Alexander Kappe, Ronya Othmann, Sibylla Vričić Hausmann, Saskia Warzecha. Leipzig (poetenladen Verlag) 2017. 128 Seiten. 17,80 Euro.

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