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Ann Cotten: Jikiketsugaki Tsurezuregusa

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Jan Kuhlbrodt


Befreiung des Inhalts zur Form



Jikiketsugaki Tsurezuregusa
Was  wie eine Zauberformel klingt, ist der Name des neuen Buches von Ann Cotten, das gerade bei Peter Engstler erschienen ist. Es ist ein Hybridtext, der sich verschiedener literarischer Formen bedient. Es finden sich darin Lyrik, Prosa, Dramatik und Zeichnungen der Autorin.

Letztes ist naheliegend, da im Kern des Textes eine Sprachaneignung beschrieben wird. Es geht um sinojapanische Schriftzeichen, deren grafischer Ausdruck wesentlich ist, und deren verblüffende Schönheit dazu geführt hat, dass sie zuweilen Dekor sind auf T-Shirts und Tassen, deren Träger und Besitzer vom Sinn dieser Zeichen nichts wissen. Vielleicht könnte man sagen, dass die Zeichen, je weiter sie in die westliche Pop-Kultur eingewandert sind, an Sinn und Bedeutung verloren haben, und dass sie ihre Brauchbarkeit für Bekleidungs- und Nippes-Industrie eben aus diesem Bedeutungsverlust beziehen. Was allerdings im kulturindustriellen Gebrauch Bestand hat, ist ihre Fremdheit, und darin liegt ein Versprechen. Das der Exotik.



Cottens Buch muss man lesen, denn es macht zuerst einmal Spaß.
Seit Tagen versuche ich herauszufinden, wie das kommt, was der Grund für meine Euphorie ist, und ich muss zugeben, es ist mir noch nicht ganz gelungen. Wahrscheinlich wird es das auch nie, und es wäre schade, würde sich meine Begeisterung in eine Reihe von Aussagesätzen pressen lassen. Dann wäre sie nämlich auf eine etwas schnöde Art transformiert und am Ende verschwunden. Es wäre eine vereinnahmende Annäherung, die der kulturindustriellen Vereinnahmung gleichkäme.

Cottens Buch muss man lesen, weil es, und darin liegt wahrscheinlich sein politischer Aspekt, nicht wie die Kulturindustrie vereinnahmend und sinnentleerend verfährt, sondern geradezu gegenteilig.

Aus der Beschäftigung der Autorin mit der japanischen Sprache und Schrift entspinnen sich quasi rhizomatisch eine Reihe von Texten, die trotz ihrer Varianz ein merkwürdig kompaktes Buch ergeben.
Und das ist vielleicht das verblüffendste, dass sich ein Inhalt in Formen befreit, dass er also nicht im Tradierten als gepresster erscheint. Egal ob Erzählung, Sonett oder Ballade, die Strenge der Form schafft Freiheit des Gedankens. Theoretisch war mir das schon lange klar, aber hier findet es eine Entsprechung.


Wie durch Pulverschnee stiebt mein Schreiben und Begreifen durchs Wörterbuch. Mein Stift ein bescheuerter Skifahrer. Immer nur bergab. Wo kein Berg zum Bergabfahren, da keine Motivation zum Schreiben, das ist wie Havariemanager, die spezialisiert sind darauf, Werften kaputtzuwirtschaften und die Einzelteile zu verkaufen. So sause ich, niemanden nützend, einiges unabsichtlich plättend, durch die Welt, erkennend, erkennend, erkennend.


Dieses Zitat findet sich fast am Ende des Bandes. In seiner paradoxen Aussage spiegelt sich das Ganze. Das Ganze des Textes, aber auch das Ganze von Sprachen. Ein Wort, Sprache, das den Plural geradezu verlangt.

Ausgangspunkt sind die Schriftzeichen, aus deren jeweiliger Bedeutung aphoristische Kurztexte entstehen, Sätze, die das im Zeichen dargestellte Wort enthalten. Eine memotechnische Übung, die aber den Anlass verlässt. Denn zwischen den vokabelheftartigen Tabellen finden sich Texte, die im Kontext der Auseinandersetzung mit der fremden Sprache entstanden sind, die Sprachen und kulturelle Traditionen in Korrespondenz setzen. Subtexte, die aber auch auf gesellschaftliche Protuberanzen zum Moment ihrer Entstehung Bezug nehmen. Zum Beispiel ist da ein No-Stück. Eine Form, die auch schon Brecht benutzte, um politische Prozesse seiner Zeit zu beleuchten, in dem er die quasi naturwüchsige dialektische Struktur dieser Form ausspielte. Bei Cotten findet sich das als Kommentar zu globalen Fluchtbewegungen.

Oder es findet sich eine längere Erzählung, in der die Protagonistin ein japanisches Bad besucht und aufgrund ihrer Fremdheit damit kämpft, einen Weg zwischen Faszination und Voyeurismus zu finden. All das sprachlich auf einer geradezu atemberaubenden Höhe.

Das alles sind Gedanken, die mir beim Versuch einer Beschreibung des Buches kommen, und sie werden ihm naturgemäß nicht gerecht. Man muss dieses Buch lesen.


Ann Cotten: Jikiketsugaki Tsurezuregusa. Ostheim/Rhön (Verlag Peter Engstler) 2017. 328 Seiten. 29,80 Euro.

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