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Alina Sarkissian: Brutalität der Nachkriegsgesellschaft im Roman "Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk"

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Alina Sarkissian:

Brutalität der Nachkriegsgesellschaft
im Roman "Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk"

Ein außergewöhnlicher Roman, der innerhalb der 12 Jahre seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2006 schon vergessen worden zu sein scheint, ist Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk vom oberösterreichischen Autor und Übersetzer Christoph Wilhelm Aigner. Sein bisher einziger Roman zeigt, wie die österreichische Nachkriegsgesellschaft von sechs Gewaltformen geprägt ist, die der junge Protagonist Johann Nepomuk Müller und seine Vertrauten erleben und trotzdem den Lebenswillen bewahren. Obwohl er sich in seiner Ausbildung noch im Gymnasium befindet und ein kleines Zusatzeinkommen als talentierter Fußballer einnehmen kann, ist er gezwungen, regelmäßig gefährliche Arbeiten zu allen Tageszeiten anzunehmen, um sich und seine Mutter versorgen zu können, durch deren histrionisches Verhalten diese sich als unfähig zum Eigenerwerb darstellt. Trotzdem genügt ihr sein bitter verdientes Einkommen nie, stattdessen fängt sie unnötigen Streit an und entzieht ihm manchmal das Essen, wenn er von der Schule, dem Training und der Arbeit in die Wohnung kommt. Die Ich-Perspektive von Johann Nepomuk mit umgangssprachlichen Ausdrücken von Direktheit, Witz und Schonungslosigkeit bildet dabei einen einzigartigen Schreibstil.

Die sechs Gewaltformen sind:

1.)    Physische Gewalt
2.)    Tierquälerei
3.)    Verbale Gewalt
4.)    Sexuelle Gewalt
5.)    Mediale Gewalt
6.)    Historische Gewalt

Selbstverständlich überlagern sich die Gewaltformen und erscheinen nicht isoliert. Die physische Gewalt bleibt nicht auf sein Familienleben beschränkt. Sein ihn regelmäßig verprügelnder Vater ohne Namen scheint ein explosiver Psychopath zu sein, dessen Wutausbrüche willkürlich durch Kleinigkeiten ausgelöst werden können. Seine Wut bleibt dabei auf seinen Sohn beschränkt, was dadurch die Ehefrau verschont, die die Schläge und Beschimpfungen als Erziehungsmaßnahmen ab dem Kleinkindalter duldet und für angemessen hält. Von seiner Mutter ohne Namen bekommt Johann Nepomuk die Information, dass der Vater ihn als Säugling an den Beinen gehalten und kopfunter über den Balkon hängen gelassen hatte, um das Babygeschrei zu beenden, was die Schuld des Sohnes als von Anfang an schwieriges Kind gewesen wäre. Seine Eltern wiesen schon seine Grundschullehrer dazu an, dem „Mistvieh (…) ruhig aufs Maul [zu] hauen, wenn es aufmüpfig ist“ (S. 334). Die Namenlosigkeit verweist auf seine Distanz zu den Eltern.
    In Rückblenden erzählt er die Erinnerungen aus verschiedenen Altern, in denen sie ihm verboten, das Licht im Kinderzimmer einzuschalten, bis er seinen Spinatteller aufgegessen hatte, während die Eltern am Küchentisch schlemmten, er öfters ohne Abendessen ins Zimmer gesperrt wurde, oder bei Tisch sonst nur geschwiegen werden durfte, wo sein Vater ihn zwang stillzuhalten, wenn er ihm die Bierfahne ins Gesicht rülpste. Prügel bezog der Junge beim leisen Radiohören, bis der Sohn in den Zustand von Depersonalisation abglitt: „Es hagelte Fäuste, aber es betraf mich nicht mehr“ (S.95), beim versehentlichen Fallenlassen von Roulettejetons, als er nur wegen des Besuchs der Tante und des Onkels Hans mitspielen durfte, dessen entsetzter Abgang niemand verstand, und beim Einmaleinslernen daheim, wenn er zu langsam rechnete, sodass die Eltern ihn als zukünftigen Hilfsarbeiter abwerteten. Das führt Johann Nepomuk zur Weltanschauung, dass „auf Erden das Faustrecht [herrscht] und sonst nix“, denn „für sowas Wehleidiges wie einen Argumentationsversuch (…) gabs automatisch so halt eine in die Fresse“ (S.35f) und „jedes Wort mehr kann die Ohrfeigen nur härter machen“ (S. 340).
    Die Brutalitätsgrenzen steckt Johann Nepomuk ab als Willkür „ohne Regel, wann und weshalb man mehr oder weniger in die Schnauze bekam“, bis die tägliche Grausamkeit seine Angst abbaut: „Als ich das begriffen hatte, lachte ich in seine Schläge hinein, ich lachte ausm blutigen Gesicht, dass ihn vorm Hineinschlagen in die blutige Visage grauste“ (S. 128f). Gleichzeitig lebt der Vater eine Doppelmoral, indem er dem Sohn einen Skikurs aus Kostengründen verweigert, während er selber zweimal im Jahr einen einwöchigen Skiurlaub in der Schweiz macht. Sie zeigt sich auch bei der Unterstellung, ein Nachbar würde seine Kinder schlagen, ohne dass ihm dabei auffällt, seinen Sohn regelmäßig selber zu verprügeln. Und als der Vater zwei Jahre zuvor, als sein Sohn 14 war, mit seiner Affäre verschwunden war, fand Johann Nepomuk beim Wohnungssäubern noch Monate danach getrocknete Blutspritzer.
    Demgegenüber wird er von der Mutter physisch vernachlässigt, was sich selbstverständlich mit emotionalem Missbrauch deckt, indem sie ihm als Einkommensbeschaffer kein Brot übriglässt, als er nach Abendessen sucht, während sie ihm unterstellt, nicht genügend zu verdienen, ihr das Essen zu stehlen und bald unvermeidlich zum Verbrecher zu werden. Seine Bitte um einen Apfelstrudel, sollte er ein gutes Zeugnis vorweisen und ausreichend Geld vorlegen können, schlägt sie als unnötigen Aufwand für sich ab, weil sie keine Familie mehr wären. Darin zeigt sich die konservative Weltvorstellung der Mutter, nur mit zwei Elternteilen eine Familie bilden zu können. Auch seine Tante Lola behauptet bei seinem Besuch nichts zum Essen übrig zu haben. Sogar als er sich die Stirn am oberen Türstock aufschlägt und blutend am Wohnzimmerboden aufwacht, bewegt sich die Mutter nicht aus ihrem Sessel, weil sie annimmt, er simuliere nur, ihn danach aber wegen des Blutes ankeift und sich selbst als Opfer mit tragischem Schicksal darstellt, das nie Ruhe findet, ohne dabei Empathie für ihren Sohn finden zu können. Das bezieht sie auf ihre Rückenverletzung durch ihren Sturz vom Balkon beim Federbettlüften, der sie belastungsunfähig machte, und auf ihren davongelaufenen, zahlungsunwilligen Exmann. Erst die Nachbarn versorgen Johann Nepomuk mit Verband und setzen ihn im Krankenhaus ab, wo die Wunde genäht und eine Gehirnerschütterung festgestellt wird. Zusätzlich verhält sich die Mutter passiv-aggressiv, wenn sie den Wohnungsschlüssel stecken lässt und sich darüber beschwert, geweckt zu werden.
    Mit diesem Hintergrund verliert Johann Nepomuk sein Zugehörigkeitsgefühl: „ich kannte das alles, aber es war mir fremd und gleichgültig (…) wie einem, der die Geisterbahn bei Tag und außer Betrieb kannte“ (S. 222). Brutalität erlebt auch die junge Mariella Teresa Steinhaus-Leibovitz, die von ihrem Exverlobten Hottler, seit sie die Beziehung beendet hat, obsessiv verfolgt wird, der Mariella mit einem absichtlich verursachten Autounfall durch Parallelfahren in den Rollstuhl und ihren neuen Freund Markus ins Grab gebracht hatte, der vom entgegenkommenden LKW zerquetscht worden war. Diese Brutalität wird mit Detailliebe ertastet: „Der Laster zerkaute den halben Wagen, und Markus war sofort verpackungsgerecht zum Entsorgen gepresst, und sie, Mariella, wurde ausgespuckt und wachte später auf, und (…) seitdem sitzt sie auf diesen Rädern eben.“ (S. 48) Vor Gericht zog der LKW-Lenker als Hauptzeuge, zufällig Angestellter des Transportunternehmens vom Vater eines Angeklagten, seine Aussage zurück, der niedrige Promillegehalt in Markus‘ Blutwert und die Diskreditierung von Mariella als Sexarbeiterin durch Hottlers Pornozeitschrift Nacktbote verhalfen ihm und den Beifahrern zum Freispruch. Trotzdem schlägt Hottler mit seiner Bande gelegentlich Mariellas Fenster ein, schlitzt ihre Autoreifen auf oder überfällt und verprügelt sie, woraus Johann Nepomuk sie beim zufälligen Zusammentreffen vor dem Fußballstadium befreit und die zwei Angreifer in die Flucht prügelt. Zuvor konnte Hottler Mariellas Unterlippe quetschen und platzen lassen, ihr Gesicht zerkratzen, ihr Bein eindrücken und Würgemale hinterlassen. Die Feindschaft wird auf Johann Nepomuk ausgeweitet, der mehrmals bedroht, überfallen und am Ende ins Krankenhaus geprügelt wird. Rechtzeitig gefunden wird er nur, weil er – übergossen und angezündet – in der Nacht aufflammt.
    Zu der Zeit ist seine mentale Stabilität schon geschwächt, weil Mariellas angesetzter Umzug ihn so verzweifelt und hoffnungslos zurücklässt, dass er alle Vorgänge auf der Welt auf einen unberechenbaren Zufallsgenerator zurückführt und lieber in einen lebensgefährlichen Kampf involviert werden möchte, als nach Hause zu flüchten, wo er sich, seiner Wahrnehmung nach, nicht verteidigen kann, was indirekt seine Abneigung und verzweifelte Hilflosigkeit gegenüber der passiv-aggressiven Mutter aufdeckt.
    Das Milieu ist von einigen grausamen Kindern und Jugendlichen bevölkert, die der Ich-Erzähler als Anekdoten und Erinnerungen durch den Roman streut. Beispielsweise Sepp Pires, der sich als Jugendstaatsmeister im Judo eingebildet hatte, bei einem Wettbewerb töten zu dürfen, und zweimal ein einstöckiges Holzhaus selbst errichtet hatte, die Kinder der Umgebung hinein einlud und es anzündete, woraufhin er von seinem Vater wegen des Teppichverlusts beschimpft und ein Pfeifenstil unter sein Auge gerammt wurde. Raimund, ein Bekannter von Markus und Mariella, hatte seine Exfreundin wegen ihrer erfolgreichen Schauspielkarriere mit Hammer und Messer getötet, war danach ins Restaurant und zum Vergnügungspark gegangen, hatte ihr vor Gericht die Schuld zugeschoben und aufgrund von Amnesie den Mord abgestritten. In der Nachbarschaft beobachtet Johann Nepomuk Prügeleien der Siedlungskinder, die auf den Kopf und die Nieren eines Liegenden eintreten. Zusätzlich kennt er einen Fußballspieler, den alle den Rasenmäher nennen, der absichtlich die Beine seiner Mitspieler bricht, bei einer Rauferei jemandem ein Ohr abbeißt und bei Unaufmerksamkeit des Schiedsrichters eine Hodenquetschung verursacht. Nachts wäre Johann Nepomuk auf dem Heimweg von einer Gruppe gelangweilter Jugendlicher verprügelt worden, wenn er nicht einen davon gekannt hätte. Es bleibt zu bedenken, dass die gefährlichen Arbeiten, für die er teilweise einen Niedriglohn bezieht und dauerhafte Verbrennungen seiner Fingerkuppen erleidet, aufgrund von seinen Vorgesetzten verweigerter Arbeitshandschuhe, nicht nur unter physische, sondern auch psychische Gewalt einzuordnen sind.
    Zur physischen Gewalt gehört die Tierquälerei der Kinder und Jugendlichen aus Spaß oder Langeweile. Sein Bekannter Naz Wimmer zerstückelt Eidechsen, besonders angetrieben vom Protest dagegen. Maikäfer zertritt er gern paarweise oder sammelt sie in einem Papiersack und zündet diesen an. Mariella beobachtete eine krebskranke Elfjährige im Nachbarsgarten, die Schnecken mit einer Schere zerschnitt und mit dem Fuß verrieb, Heuschrecken mit der Hand zerstückelte, die Köpfe zerquetschte, Hirschkäfer knackte und mit Nadeln aufstach. Bei den Folterungen war sie darum bemüht, die Tiere möglichst lange leben zu lassen. Von ihren Eltern wurde das Kind dort stundelang ohne Essen allein gelassen. Die Tierquälerei in seiner und Mariellas Umgebung unterstreicht die sinnlose Brutalität und Abgestumpftheit der Nachkriegs-kinder.

Die psychische Gewalt ist selbstverständlich mit der physischen verbunden. Johann Nepomuks Eltern bezeichnen ihn je nach Situation als unnützer Fresser, lebensunwertes Leben, Lügner, aus der Art geschlagen, verstockt und undankbar. Dadurch kommt Johann Nepomuk zur Selbstwahrnehmung als dumm und hässlich. Seine Eltern lästern mit willkürlichen Unterstellungen über andere, während seine Tante bei ihm eine Drogensucht vermutet. Seine Mutter nennt seine geliebte Mariella beim ersten Treffen Krüppelhure (S.416). Das Vorzeigen seiner bewunderten Malereien tut der Vater mit dem Begriff Entartung ab, der zum Nazijargon gehört, und dadurch die Weltvorstellung des Vaters charakterisiert. Sein selbstgemaltes Portrait von Mariella wirft seine Mutter in den Müll, während er in der Schule ist. Die Eltern erweisen sich oft als passiv-aggressiv:
    Als Sechsjährigen zog ihn die Mutter ohne Erklärung zur Grundschuleinstufung, er wurde aber wegen seiner fehlenden Märchenkenntnis um ein Jahr zurückgestuft und noch nicht zugelassen, weshalb die Mutter darüber jammerte, ihren Sohn ein Jahr länger zu Hause aushalten zu müssen.
    Ohne Geld in einem Stadtlokal beim Kinderfasching abgesetzt, droht ihm der Vater, sich nicht wegbewegen zu dürfen, was das Kind wörtlich nimmt und fünf Stunden auf der Stelle sitzenbleibt, statt mit den anderen Kindern zu spielen. Beim Skiausflug mit dem Vater und dessen Affäre bekommt er nur eine Einzelfahrtkarte und muss bis zum Nachmittag neben dem Auto warten. Zusätzlich belastet ihn als Jugendlicher das histrionische Verhalten seiner Mutter, das er als Selbstmordtheater (S. 184) wahrnimmt. Sein eingebrachtes Geld reicht ihr nie, während sie sich mit mehr als 20 Schuhpaaren im Regal aber als konsumsüchtig erweist. Obwohl er sich den Schultanzkurs selbst finanziert, versucht sie ihm den Stundenbesuch grundlos zu verweigern. Seine Schullehrer*innen sehen sich durch seine langen Haare, seine Unaufmerksamkeit und versehentliches Einschlafen aufgrund seiner anstrengenden Arbeit und schließlich durch sein ungepflegtes Erscheinen nach der Nachtschicht in der Hitze beim Paketausladen darin bestätigt, ihn beschimpfen zu dürfen als Asozialer, Prolet, Gesindel, Charakterschwein, dubioses Element, Sozi mit Rotlauf, Spatzenhirn, Zigeuner und unappetitlich. Bevor die Deutschlehrerin von seiner Arbeit erfährt, fordert sie seinen Schulausschluss. Der Mathematiklehrer ignoriert auch passiv-aggressiv die Mädchen, die er als unwert für den Unterricht betrachtet und Kittelvolk nennt (S. 155), was das Schulmilieu als misogyn kennzeichnet. Für die gleichen Mathearbeiten erhält Johann Nepomuk eine Note schlechter als sein Freund, und bei Deutschaufsätzen über Urlaubserlebnisse ein Genügend wegen Themenverfehlung, weil er nur einen Bachspaziergang erlebt hat. Vom Zeichenlehrer wird er beim Vorzeigen seines Kunstbuchs vor allen verhöhnt, weil er die Abkürzungen darin nicht versteht, statt für sein Kunstinteresse Wertschätzung zu erhalten.
    Seit Mariellas Rettung bekommt er von Hottler Todesdrohungen. Auch der in Mariellas und Roberts Haus untergebrachte Zwangsmieter Thusler schüchtert Johann Nepomuks Großmutter so ein, dass sie für einen Apfel einen Halbkilopreis bezahlt. Psychische Gewalt erscheint in diesem Roman also durchgehend. Mariella erlebt sie durch ihren Unfall, ihre körperliche Beeinträchtigung, Markus‘ Tod, den verlorenen Gerichtsprozess, die ständigen Angriffe und durch ihren alkoholsüchtigen Vater Robert, der seine Tochter durch ihre Sorgen um ihn zusätzlich belastet. Trotzdem wirkt ihr Charakter erstaunlich gefasst, wobei eine Komplexe posttraumatische Belastungsstörung bei ihr vermutet werden könnte. Nur einmal erwähnt sie Johann Nepomuk gegenüber, dass sie Stimmungsirritationen hat, die typischerweise bei Gewaltopfern auftreten.

Die sexuelle Gewalt tritt in zusammenhängenden Kontexten auf. Zuerst beim Mieter Thusler, der für freie Kost und Logis die armutsbedrohte Elvira Brezina offiziell als Lehrling ohne Gehalt aufnimmt und sie zu Sex zwingt, bis sie mit fünfzehn schwanger wird. Als Mariella sich von ihrem Verlobten Hottler trennt und in der Wohnung einer gemeinsamen Freundin betrunken und ausnahmsweise bekifft einschläft, kommt zufällig die Hottlerbande, die sie vergewaltigt und Fotos davon in Hottlers durch Drogenhandel finanzierten Nacktboten veröffentlicht, und nach einiger Zeit auch ihren vollen Namen mit Adresse und Telefonnummer. In einem zuvor veröffentlichten Artikel mit Foto versuchte Hottler sie zur Rückkehr zu zwingen. Durch die mediale Gewalt des Nacktboten kann vor Gericht Mariellas Glaubwürdigkeit zerstört und Hottlers Bande freigesprochen werden. Zusätzlich benutzt die Hottler-Bande auch Alkohol und andere Drogen, um junge Studentinnen für ein unbestimmtes Gehalt als Erotikmodels für den Nacktboten ausbeuten zu können. Dabei bleibt die Hottler-Bande durch ihre Kontakte mit Politikern und Polizisten vorerst geschützt. Später trifft Johann Nepomuk dafür unbeeinflusste Polizisten, die die Hottler-Bande zur Verantwortung bringen wollen.

Abschließend ist diese Gesellschaft von historischer Gewalt geprägt: Die Eltern benutzen einen Nazijargon wie entartet, unwertes Leben und jüdeln. Manche Schullehrer waren Wehrmachtsoffiziere. Von den Siedlungskindern hört Johann Nepomuk antisemitische Auszählreime, während ein Fußballschuss mit Schuhspitze oder eine halb angezündete Zigarette als Jude bezeichnet werden. Bei seiner Großmutter findet er Hefte mit gefolterten, ausgemergelten und ermordeten KZ-Gefangenen, die ihn erschüttern. Die in die Gegenwart reichende Ideologie bemerkt er auch durch das gesprühte JU auf Roberts Hauswand. Danach hört er Roberts Vermutung, ob Thusler ihn und seine ins KZ verschleppte Esther, Mariellas Mutter, denunziert hatte, um ihre Wohnung zu bekommen. Demgegenüber war Müllers Mutter im Bund deutscher Mädchen und rettete die Großmutter, die beim Anblick der Zugwaggons und Exekutionen im eigenen Hof sich an die Wand dazustellte und noch im nächsten Jahr diese Holzwand wusch. Ihr Trauma kann die Großmutter nur durch das Wandwaschen ausdrücken. Die Ideologie der historischen Gewalt ist in Folge dieser Beobachtungen also mit der gegenwärtigen Gewalt in der Nachkriegsgesellschaft verbunden.

Die Vielschichtigkeit des Romans kann nicht in einem Essay abgehandelt werden, der ein Ausnahmewerk der österreichischen Literatur ist und scheinbar nicht vor dem Vergessen bewahrt werden kann.


Christoph Wilhelm Aigner: Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk. Roman. München (DVA) 2006.
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