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Alexandru Bulucz: Lieber Unkel Paol

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Alexandru Bulucz
 


Lieber Unkel Paol,
R.R. zum 70.
die Kältin macht sich wieder breit, sickert langsam, aber sicher ein
in Ackerschollen u. andere Wunden, die ollen.
Die Kältin macht einen auf Stechimme, sie sticht immer
tiefer den Spaten mit Widerhaken in frostige Böden u. andere Öden.

Ihr spätnovembriges Gestichel löst Kältekopfschmerz aus.
Du Schütze, dein Monat ist eine kaltschnäuzige Ernte.
Der Sommer hatte uns so lange im Schwitzkasten, dass Lots Frau
Lotte bei diesem Temperatursturz aus allen Himmeln die Kinnlade runterfällt

an dem vor drei Jahrhunderten aufgestellten, aber als Stele
nach oben sich leicht verjüngenden preußischen Meilenstein
vom Schloss Tegel, mit vom Regen unkenntlich gemachter Angabe
u. vom vielen Schleifen von Äxten u. Sensen entkanteten, nein:

dekantierten Kanten, von wo aus die wilden Bolde Willy u. Alex
durch Welten trampten u. so weit kamen, wie sie Hummeln im Hintern hatten,
die in See stachen, u. ihre Katzensprünge machten zu den zwei dicken Maries,
als da wären die Köchin des Schlosses u. eine Rieseneiche an der großen Malche,

wobei eine der anderen den Namen gab oder umgekehrt die andere der einen
in Selbstähnlichkeit von Taille u. Brusthöhe, wiewohl in aller Wahrscheinlichkeit
keine von der anderen wusste,
nicht von der Köchin die Eiche, die bald tausendjährige, wie die einen schätzen,

u. die Köchin nicht von dem Exemplar dieses deutschesten aller Bäume,
was für die anderen feststeht,
dass selbst ein Alter von 350 Jahren reichte,
um eine Zeitgenossin der Dronten gewesen zu sein, deren eine Droste hieß.

Ja, die dicke Marie muss nicht bald tausendjährig sein,
um auch andere Kältinnen erlebt zu haben als die, die ich heute mir ihr teile:
des Tegeler Sees Tripelpunkt,
an dem Eis u. Wasser zu Wasserdampf verdampfen u. Eis zu Wasser schmilzt,

während Wasser gefriert u. Wasserdampf zu Wasser kondensiert u. als Eis ausfriert,
im Kampf sich anbibbernder Aggregatzustände um thermodynamische Balancen,
in dem Tripelpunkte zu Trippelpunkten werden u. Doppelkonsonanten Doppelkorn
nach sich ziehen, der wiederum nicht unterscheiden kann

zwischen langen u. kurzen Vokalen, zwischen Siegfrieds Schrottcollage-
engel für Hannah, den er als archaischen Erz-Engel bezeichnet,
um an die Erze zu erinnern, aus denen einige seiner Materialien gewonnen wurden,
u. die hohe Stellung seines Engels in der Hierarchie der schieren Schar der Engel

doppelt abzusichern, denn doppeltgemoppelt hält besser,
u. ich kann zu dieser Uhrzeit Pleonasmus u. Tautologie nicht auseinanderhalten
zwischen Siegfrieds Schrottcollage-
engel, der in der Verlängerung der Gabrielenstraße als ein Gabriel durchgeht

aus Holzbohlen, Planken u. metallenen Räderwerken,
mit Flügeln aus Teilen eines Bootsrumpfs,
eines Schwimm- u. Flugfähigkeitsgaranten zugleich
zwischen Siegfrieds Schrottcollage-

engel an der großen Malche, der auf den Tegeler See blickt,
auf dem Siegfried u. Hannah eisliefen, als er zugefroren war,
im Begriff,
sich mit der ganzen Kraft eines Bootsrumpfs von ihm abzustoßen

bei dem Gedanken an die Degeneriertheit einer Zeit,
in der Kunst als entartet galt
zwischen dem Engel der Geschichte, der so aussehen muss
wie Siegfrieds Engelsschichten für Hannah,

u. dem Tegeler Gefängnis,
in dem Dietrich seine berühmten Briefe schrieb u. an Dankbarkeit u. Reue
dachte, die uns unsere Vergangenheit immer gegenwärtig halten,
während du, lieber Unkel, im Arbeitslager bei Buzău im Straßenbau malochtest

an der großen Malche, wo es im Restaurant am See,
anders als im Gulag, Gulasch gibt, zwischen all dem u. euch dreien am Tripelpunkt,
die ihr eines zerbrochenen Kruges Scherben von Schergen seid,
zerstreute Funken mit Furunkeln,

u. schrieb nicht Primo, der Tod beginne bei den Schuhen,
Leiden wie dicke Füße seien hier,
also damals dort, im regalen Lager, nicht loszuwerden?
Es liegt doch auf der Hand: Ebenso beginnt der Tod bei den Furunkeln,

wo mir Petzen-Edith einfällt, der zufolge
du in einer Jugendsünde bei dem Kaffeekränzchen mitgesungen hättest
das Arbeiterlied Bruder, zur Sonne, zur Freiheit,
das der Schubert-Chor zwei Monate vor deiner Geburt auf die deutsche Bühne brachte:

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder zum Licht empor!
Hell aus dem dunklen Vergangnen
leuchtet die Zukunft hervor.

Lieber Unkel, ich stelle dich mir als einen Towarischtsch vor,
im Spätherbst u. mit allem, was dazu gehört:
der Uschanka auf den Ohren, die dann langzuziehen wären,
den Bokantschen an den Füßen, die dann bleiern wirkten,

mit genug Okroschka, Borschtsch u. Schtschi für dich u. die Genossen.
Alleine, dein Getreide leuchtet nicht u. leuchtete noch nie.
Auf dem Felde körpern sie, die Halme, nur herum,
weder Sinn noch Sense, nur ein Sensenmann mitohne Sinn,

der zeigt, wohin der Gerste u. der Hirse Ähren als Vektoren zeigen,
der zeigt, wohin des Roggens u. des Weizens Ähren als Vektoren zeigen,
der zeigt zur Erd’ nach unten, dann zeigt er auch zu Knochen-, Ähren-
Diemen, die auch Tristen heißen. Da liegt man doch eng.


(Tegel/Frankfurt, November/Dezember)

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