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Alberto Nessi: Blätter und Blässhühner

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Timo Brandt

Würdigungen und Wunsch-Denken


„Von den alten Menschen auf der steinernen Sitzbank,
die sicherlich älter als sie ist, doch nicht älter als das Licht,
das die nackten Blätter vor den angelehnten
Fensterläden erhellt, dringen Gesprächsfetzen zu mir.“

Das Nachwort zu diesem Band, geschrieben vom italienischen Dichter Pietro de Marchi (von dem auch eine Gedichtauswahl beim Limmat Verlag erschienen ist, „Das Orangenpapier“, die ich auch hier besprochen habe), beginnt mit der Feststellung, dass es schon immer das Streben des Schweizer Dichters (und Prosaautors) Alberto Nessi war, die gewöhnlichen, von der Berichterstattung meist vergessenen, Schicksale von Männern und Frauen wiederzugeben und so für die Nachwelt festzuhalten.

Wenn dem so ist, dann spürt man in diesem Band zu wenig davon. Es gibt zwar durchaus einige Gedichte, die diesen Anspruch einlösen, bspw. eines, das mit den oben zitierten Zeilen beginnt und dann fortfährt, die Figuren aus den Geschichten der beiden älteren Menschen (Figuren, die halb Legende, halb Gerücht zu sein scheinen), aufzuzählen und zu zeigen, wie fest diese Menschen in den Erzählungen mit einem Ereignis, einem Zustand, einer Erinnerung verknüpft sind, darin bewahrt, aber auch daran kettet; oder ein anderes, das von einer Fotographie ausgeht und so beginnt:

„Sie sind mit dem Fahrrad nach Lugano gefahren,
nun stehen sie alle im Unterhemd
vor dem Ristorante del Popolo,
alle tot.“

Und dann ebenfalls die einzelnen abgebildeten Männer mit nachhaltigen Erinnerungen verknüpft. Aber diese Gedichte sind nicht in der Überzahl, und die ganze Stimmung des Bandes ist nicht auf diese Form des Erinnerns, des Bewahrens ausgerichtet.

Viel stärker ist, meiner Ansicht nach, das Feierliche, das Zelebrieren von Gefühlen und Momenten, bei denen Nessi gerade das Unwiederbringliche betont und allenfalls noch den Wunsch, eine schmale Hoffnung, nach Ewigkeit anschließt.

„denke, dass das Elend
unserer täglichen Gesten auch auseinanderfällt:
dies also, denke ich, ist
unsere ganze Geschichte: zerstiebende Blüten und Asche.“

Sehr stark tendieren diese Gedichte in meinen Augen dazu, ein Trost sein zu wollen, als bleibende Instanz, als Rückvergewisserung für die Nähe zwischen den Menschen oder die Nähe der Menschen zu ihren genuinen Erfahrungen dienen zu können. Nessi scheut keine offenen Botschaften in seinen Texten, keine Bekenntnisse. Zuwendung, Hingabe und Würdigung, das sind die Markenzeichen seiner Gedichte.

Diese Hingabe wendet er sowohl geliebten Menschen, als auch seiner unmittelbaren Umwelt zu und manchmal geht er zusätzlich auf gesellschaftliche Diskurse ein – es gibt einige Gedichte, die sich am Rand mit den Schicksalen von Personen beschäftigen, die über das Mittelmeer gekommen sind. Meist werden die Betrachtungen dazu ambivalent und verhalten in die Gedichte eingewoben, so als scheue Nessi das Plakative, als wolle er zwar Aufmerksamkeit für das Schicksal der Menschen generieren, aber nicht für seine persönliche Meinung zu dem Diskurs drum herum, was eigentlich sehr sympathisch ist.

„Ich weiß nicht, wohin ich gehe, Tochter,
die du ein Licht suchst und dich über die Welt
der Gierigen wunderst, ich kann dir nur
die Kraft meiner Augen geben, die vor der Dunkelheit
nicht zurückweichen. Eines Tages
wenn auch sie Erinnerung sein werden,
in dir, in einem Winkel von dir,
mögen sie leuchten wie das stille Wasser,
das den Zweig eines Baumes widerspiegelt.“
                 
Es gibt einige Gedichte, die sich an die Töchter richten und einige Liebesgedichte. Nicht selten sind auch Betrachtungen von unterwegs, aus Zugfenstern oder bei kurzen Aufenthalten, Besuchen entstanden.

Reisen wird dabei immer wieder als Möglichkeit dargestellt, einen frischen Blick auf die Dinge zu bekommen, das Vergehen der Zeit und die Beschaffenheit der Welt in anderen Dimensionen zu erleben.

„Anästhesielos
werden die Wochen zu Tagen, die Tage zu Stunden,
und in dieser Minute beschleunigt der Zug
seine Fahrt, wehen Flaggen
über den frühen Gärten der Peripherie,
fliegen heisere Krähen tief über weiße Büschel,
und ich schau auf die Welt durch das Herz, welches jemand
auf die graue Scheibe gemalt hat.“
             
Wie gesagt: feierlich, zärtlich, manchmal fast gewaltsam zärtlich, sind diese Gedichte. Dass sie bei aller Feierlichkeit nur selten etwas Pathetisches oder Manieristisches ausstrahlen, liegt wohl vor allem daran, dass Nessi trotz aller Fülle, die in seinen Gedichten liegt, trotz der Vergleiche und Anwandlungen, nie zur Übertreibung greift. Selbst in seinen größten Gesten liegt noch etwas Bescheidenes, etwas Flüchtiges.

„Deine Erinnerung ist mir ein Spindelstrauchzweig,
den ich an einem Septembertag abbrach,
eine nie gewesene Liebe, ein rostfarbener
Wagen auf einem Abstellgleis.“   

Mit vielen Gedichten von Nessi habe ich mich nicht ganz anfreunden können, denn sie haben mitunter etwas Beiläufiges, das mir einfach nicht liegt (zumindest nicht, wenn es in die Länge gezogen wird und nicht auch formal umgesetzt wird).

Trotzdem gibt es andere Gedichte, denen gerade mit dieser Dosierung eine besondere Intensität gelingt, die mir wiederum sehr zusagt. Meist dann, wenn am Ende (oder auch an der zentralen Stelle) aus dem schlichten Stiel des Textes doch noch eine Blüte hervorbricht.

„Liebe mich
und ich werde dir eine Handvoll Erde
mitbringen für die Blumen des Gartens.“    


Alberto Nessi: Blätter und Blässhühner. Foglie e folaghe. Gedichte. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Christoph Ferber. Zürich (Limmat Verlag) 2018. 176 Seiten. 38,00 Euro.
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