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(Florian Bissig:) Mauerlängs durch die Nacht

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Timo Brandt

Mit Lyrik entlang der Mauern streifen


„Eugen Gomringers Manifest ‚vom vers zur konstellation‘ von 1954 ist zu entnehmen: Das Gedicht folgert nichts, und nichts an ihm ist wahr oder falsch. Die konkrete Poesie […] behandelt Sprache als Material. Gesprochen wie geschrieben hat Sprache materielle Eigenschaften, akustische und visuelle. […] Dem Wort in seiner materiellen Schönheit allein soll die Bühne gehören. Das entsprechende Kunstwerk nennt Gomringer »Konstellation«, die – gleichsam ein Sternbild aus Worten – »eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen größen« ist.“

Die hier versammelten Kurz-Interpretationen zu Schweizer Gedichten aus ca. 100 Jahren wurden zuerst im Wochenrhythmus in der Zeitung „Schweiz am Wochenende“ publiziert, zwischen Oktober 2017 und März 2018. In der Anthologie ist zunächst das Gedicht abgedruckt, gefolgt von den, meist drei Seiten langen, interpretatorischen Ausführungen.

Der Anspruch dieser kurzen Ein- und Ausblicke (und nun dieser Sammlung), so merkt der Autor und Herausgeber Florian Bissig in seinem Vorwort an, lag weder in der literaturgeschichtlichen Einordnung der Autor*innen und ihrer Werke, noch in der Zusammenstellung eines Kanons der besten Schweizer Gedichte. Vielmehr geht es ihm um eine niedrigschwellig angelegte Begegnung mit dem Text, eine umsichtige Auslegung seiner möglichen Inhalte, seiner Verfahrensweisen und Ideen.

„So lenkt Halters Gedicht die Lektüre auf eine mehrgleisige Route, die zugleich in die Tiefen der Selbstanalyse und in die Höhen der Gesellschaftskritik verführt und sich am Ende als Irrfahrt an der Oberfläche entpuppt.“

Die Auswahl der Gedichte ist erfreulich: Klassisches und Modernes, Mundart und Zwei-sprachigkeit, Kurioses und Bodenständiges, Pralles und Karges, all diese Bereiche und Richtungen werden abgedeckt. Bekannte Dichter*innen wie Robert Walser, Klaus Merz, Ilma Rakusa und Raphael Urweider sind dabei, aber auch (leider viel zu) unbekannte wie Alexander Xaver Gwerder, Rainer Brambach, Marina Skalova oder Kurt Marti.

Ich hoffe, darüber hinaus, dass die beiden Textausschnitte bereits anklingen lassen, mit welch gelungener Kombination aus Anschaulichkeit und Abstraktion Bissigs Interpretation größtenteils zu Werke gehen. Ohne sich im bloßen Wohlwollen zu verlieren, nähern sie sich den Texten ohne Zögern, aber mit einer Ambivalenzen zulassenden Ruhe.

Es gab 2-3 Gedichte, die ich auf den ersten Blick nicht für besprechungswürdig hielt, aber zumindest bei einem von ihnen hat mich Bissig eines Besseren belehrt – wobei belehrt eigentlich der falsche Ausdruck ist und doch der richtige. Denn der Autor spielt sich zwar nicht als vollendender Interpret auf und entlässt viele Gedichte mit dem Hauch des Ungeklärten, der andauernden Faszination, gibt den Lesenden aber jede Menge Wissen an die Hand, dessen Bandbreite von biographischen Details der Verfasser*innen bis zu Ideen aus der klassischen Philosophie reicht.

Man wird in die Gedichte, die Beschaffenheit ihrer Landschaft, eingeführt, aber auch mit dem Rüstzeug ausgestattet, das es einem ermöglicht, sie selbst von vielerlei Seiten zu erklimmen. Eine Aufstiegsmöglichkeit wird in den Fokus gerückt, aber oft schwingt mit: seht, es ist gar nicht so schwer, wenn man es einmal wagt, wenn man einmal anfängt, sich hinein/hinauf begibt.

In einem Essay am Ende des Buches, den ich ganz besonders loben und hervorheben will, schafft es Bissig dann noch, einige Ausführungen zu den Stärken der Lyrik mit einer klugen Gesellschaftsanalyse zu verbinden – und letzten Endes in einen Appell münden zu lassen, der nicht nur die Bedeutung der Lyrik, sondern auch die Bedeutung des ihr zugrundeliegenden Verständnisses für die Vielgestalt und Fragilität der Erscheinungen des Daseins hervorhebt.

Aus diesem Text möchte ich abschließend einige kurze Passage zitieren – vorweg aber noch eine Leseempfehlung aussprechen: diese kleine Anthologie ist vielschichtig, klug und vor allem erfreulich, bringt sie einem doch nicht nur Schweizer Gedichte, sondern Lyrik generell nah!

„Nicht zuletzt schärfen moderne Gedichte gerne den Blick für das Nebensächliche und problematisieren das scheinbar Selbstverständliche, gleichsam als verdichtete Reportagen. […] Die Begründer der romantischen Dichtung Englands, William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge, gingen so weit, ihre Lyrik als Gegengift gegen das »entwürdigende Verlangen nach skandalöser Stimulation« aufzufassen, dass die Massenmedien schürten. […] Die Lektüre von Lyrik ist zugleich ein Übungsfeld und ein Ort der Ermächtigung, wo der Umgang mit Vieldeutigkeit, Mehrschichtigkeit und Perspektivität erlernt und geprobt werden kann. […] Die Bereitschaft, die überfordernde Erfahrung der Mehrdeutigkeit auszuhalten, ist offenbar verloren gegangen. Man ist auf das klare Urteil aus. Wer nicht klar Position bezieht, der wird in der Debatte übervorteilt und übertrumpft. […] Wir können nicht anders als interpretierend durch die Welt gehen. Die Besinnung auf Wahrheit und Fakten ist löblich, doch sie reicht nicht aus. Denn die Welt besteht nicht aus Fakten, sie ist ein Ensemble unserer Interpretationen.“


(Florian Bissig:) Mauerlängs durch die Nacht. Kleine Anthologie der Schweizer Lyrik. Innsbruck (Limbus Verlag - Preziosen) 2018. 96 Seiten. 15,00 Euro.  
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