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Şafak Sariçiçek: die nacht vom 15. juli auf den 16. juli, als wir einen krimi sahen und das land verwirrt war

Gedichte > Zeitzünder



die nacht vom 15. juli auf den 16. juli, als wir einen krimi sahen und das land verwirrt war



am 15. juli schauten wir mit meinem bruder
schneidersitzend auf dem sofa einen dänischen krimi

auf dem laptop, um halb elf abends,
nebenher moskitos abwehrend und am schwitzen

und gerade als dem kommissar
sein widersacher mit einer kugel im arm entwischte

klingelte das handy auf dem tisch
und mein bruder nahm ab (stimme meines vaters) und legte bald wieder auf

dann auf nervöse nachfrage, die nervöse
antwort: das militär habe die macht ergriffen, geputscht.

versuch, orientierung zu wahren,
mit elektrischer fliegenklatsche und blick auf den bildschirm

wo jetzt der zynische kriminalbeamte
zu zittern begann und plötzlicher szenenwechsel.

den film pausiert – nachrichten
im wohnzimmer: der fernseher zeigt tanks am flughafen, tanks

im internet, großes gewirr:
inszenierung? gebt auf euch acht! schüsse! minister aus seinem versteck: werdet kanonenfutter!

bei der bosporusbrücke
menschen mit fahnen, moderatorin im videochat mit dem präsidenten

„dazugeschaltet aus einem geheimen ort“
(im fernsehen: allahuekber), durcheinanderreden der familie; zwei von uns woanders,

in istanbul, auf lesbos, nachrichten von beiden:
alle sind okay, nachrichten an die fragenden freunde aus deutschland:
wir sind alle okay,

(nur ein wenig
schweiß auf meiner stirn,
ein wenig
im wechsel: ruhe und angst aus ungewissheit.)



am 16. juli, 3 punkt 20 uhr
sind wir noch alle wach und das gleichmäßige tuckern eines fischkutters

kommt leise durch das fenster:
ein kleiner trost, ein alter freund, ein wenig frieden in der welt

ist jetzt alles was ich will, auf diesem
fischkutter sein, an tagen die sich ruhig gleichen dürfen, nur ruhe in sich tragen

auf meeren, weit weg
von macht und von blutvergießen, von nachrichten des lastwagenmassakers
aus nizza, von intrigen und fehlgeleiteten, wahn und täglicher angst, von angst!

weit weg davon,
auf meeren, wo tage sich nur in farbe und größe der fischflossen;
wo tage sich anhand der wellen und am wind unterscheiden,

doch jetzt:

will ich nur schlafen, mit dem willen nach tagen die ruhe in sich tragen,

auf meeren, weit weg.

4 punkt 25 uhr: ich will schlafen.



Şafak Sariçiçek: unveröffentlicht, 2016

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